Journalisten kehren ihren Arbeitgebern den Rücken und machen sich selbstständig, aber nicht als Pressesprecher oder Berater. Sie bleiben Journalisten. Sie suchen die Nische und starten eigene Podcasts oder zunehmend Newsletter. Wenn die stärksten ihres Fachs gehen, kann es für Medienhäuser gefährlich werden. In den USA ist der Trend längst da und wird befeuert – kommt er bald auch nach Deutschland?
Die Emanzipation der Journalisten von ihren Medienhäusern schreitet voran. Die Entkopplung läuft nicht mehr schleichend, sondern vor den Augen aller.
So groß und einflussreich die Marke eines einzelnen Journalisten bislang gewesen sein mag, so hing sie immer auch an der publizistischen Stärke des Mediums, für das er arbeitete. Meist in Festanstellung, die geregeltes Einkommen und soziale Absicherung versprach. Die Zeiten ändern sich – am schnellsten mal wieder in den USA. Dort ist ein interessanter Trend zu beobachten.
Anerkannte Journalisten kehren ihren Arbeitgebern und Medienhäusern den Rücken zu. Nicht um bei der Konkurrenz für mehr Geld anzuheuern oder für (mehr oder weniger) renommierte Jobs in der Kommunikation oder Beratung. Sondern um selbst zur Konkurrenz zu werden.
Jüngstes und zugleich prominentes Beispiel ist Tech-Reporter Casey Newton, „erste Anlaufstelle für News aus dem Silicon Valley“, wie sein Arbeitgeber The Verge ihn bezeichnet. Beziehungsweise: Ex-Arbeitgeber. Newton wandte sich im September ab, um nichts anderes zu tun als bisher, nur eben unter eigener Flagge. Für The Verge erfand und schrieb er den Newsletter The Interface, den er jetzt als Platformer weiterführt. Seinen Abonnentenstamm nahm er nach eigenen Angaben mit. Der Journalist ist kein Einzelfall:
► Ebenfalls in diesem Jahr verließ Kulturjournalistin Anne Helen Petersen BuzzFeed, um ins selbstständige Newsletter-Business einzusteigen.
► Kolumnist Matt Taibbi ist seit April Newsletter-Schreiber in Vollzeit – dafür verließ er RollingStone, wo er seit 2003 schrieb.
► Andrew Sullivan tat im Sommer dieses Jahres dasselbe, nachdem er sich beim New York Magazine unter Neu-Eigentümer Vox Media, publizistisch nicht mehr aufgehoben fühlte – er belebte sein Blog The Dish als Newsletter wieder.
► Klima-Reporterin Emily Atkin gab ihren Job bei New Republic auf, um ihren Letter Heated zu starten .
► Judd Legum gab für seinen Newsletter bereits vor zwei Jahren den seinen Posten als Chefredakteur von ThinkProgress (wurde 2019 eingestellt) auf
► Investigativ-Journalist und Pulitzerpreisträger Glenn Greenwald (NSA-Affäre), Co-Gründer von The Intercept warf jüngst seinen Job hin, nachdem er seiner Redaktion Zensur vorwarf. Auch er schreibt jetzt einen Newsletter.*
… um nur einige zu nennen.
Sieben Gründe, weshalb Journalisten auf eigene Newsletter setzen
Die Journalisten und Publizisten mögen im Detail unterschiedliche Gründe für ihre Entscheidungen haben. Dass sie ins Newslettergeschäft einsteigen, liegt vor allem an veränderten Rahmenbedingungen – kulturell wie technisch:
Nicht mehr das Medium ist die Marke, sondern der Journalist
Die Autoren haben eigene Reichweiten aufgebaut, die sie nun vermarkten können. Nischen-Journalist Casey Newton zählt über 108.000 Twitter-Follower, bei The Verge sammelte er 20.000 Newsletter-Abonnenten ein. Matt Taibbi kommt auf 480.000 Twitter-Follower, Judd Legum, der schon für Hillary Clinton arbeitete, auf 450.000. Casey Newton sagt: „Als Nutzer verfolgt man vielleicht eine Publikation. Es ist aber wahrscheinlicher, dass man sich für einen einzelnen Reporter, Autor, YouTuber oder Podcaster interessiert. Die Menschen sind zunehmend bereit, sie finanziell zu unterstützen.“ Andere Worte, gleiche Tendenz kommt von Emily Atkin. Sie sagte nach ihrem Ausscheiden bei New Republic: „Im Laufe der Zeit in dieser Branche realisiert man, dass es einen Punkt gibt, an dem du nicht mehr von der Marke der Publikation profitierst, sondern sie von dir.“
Das eigene Medium bedeutet publizistische Freiheit
Die Journalisten schaffen sich die publizistische Heimat, die sie bislang nicht gefunden haben. Emily Atkin wandte sich von New Republic ab, nachdem dort ein umstrittener Essay über den ehemaligen Präsidentschaftsbewerber Pete Buttigieg erschienen war. Sie habe sich danach auf eine Art und Weise „pleite“ gefühlt, sagte sie.
Der konservative Autor Andrew Sullivan schrieb in seiner letzten Kolumne für das New York Magazine: „Was geschehen ist, denke ich, ist relativ simpel: Eine kritische Masse der Angestellten und des Management von New York Magazine und Vox Media wollen nicht länger mit mir arbeiten.“ Dabei unterstellte er Kollegen und den neuen Eigentümern von Vox Media, keine Stimmen dulden zu wollen, die nicht gleich einem gewissen Mainstream verfallen. Er bemängelte den Mut und die Lust zur Reibung.
Journalisten bauen eine engere Bindung zu ihren Nutzern auf
Größerer Austausch in sozialen Netzwerken oder schon eine direkte Ansprache schaffen eine neue Beziehung. Überhaupt erst, werde ihnen durch die eigene Tätigkeit bewusst, dass sie eigene Communitys haben, sagte Atkin in der Washington Post. Auch Casey Newton hebt die Community hervor. Er sagt: „Ich habe Nutzerfeedback bislang immer in meinen Newslettern aufgegriffen, ich habe bislang aber nie versucht, es als Community zu kultivieren.“ Und: „Ich bin wirklich gespannt darauf, was in der Community steckt und was sie von meiner Berichterstattung erwarten.“
Flucht aus dem Internet in die Mailbox
So hat die New York Times den Trend letztens beschrieben. „Journalisten verlassen das lautstarke Internet für Ihren E-Mail-Posteingang“ lautete die Überschrift einer Analyse. Der Hollywood-Reporter Richard Rushfield spricht darin von einem „Rettungsboot“ vor dem „Wrack der alten oder auch neuen Medien“. Gemeint sind damit weniger die wirtschaftlichen als die kulturellen Umstände. Auch Journalisten haben es satt, sich der durch die sozialen Medien aufgeblasenen Aufmerksamkeitsökonomie zu unterwerfen. „Es hat etwas Wundervolles nur für seine Leser zu schreiben“, sagt dort auch Sullivan. Man sei zwar rechenschaftspflichtig, pflege aber „reine“ Beziehungen. „Es erinnert mich an die wundervollen alten Tage der Blogosphäre.“ Dazu passt das Format des Newsletters. „E-Mail ist ein intimeres Medium als einfach Texte ins Netz zu stellen, sagt der Journalismusprofessor Jay Rosen.
Technische Möglichkeiten werden einfacher – Content geht vor Ästhetik
Um ein journalistisches Medium aufzuziehen, hat es in Vergangenheit viel gebraucht – neben teuren Redakteuren gab es das Layout, den Druck, den Vertrieb und die Werbung. Im digitalen Zeitalter wird vieles davon überflüssig. „Der Vertrieb erfolgt sofort, das Design wird automatisiert, Druckkosten gibt es keine, hält Matt Taibbi fest. „Das logische Endspiel besteht darin, die Journalisten direkt für die Leser arbeiten zu lassen.“ Die Binsenweisheit „Content is King“ scheint sich zu beweisen.
Paid Content schafft einfachere Geschäftsmodelle
„Ich glaube, dass das Abogeschäft für unabhängige Journalisten der richtige Weg ist“, schreibt Taibbi weiter. Im Vergleich zum Blogger-Trend vor einigen Jahren ist es für Journalisten heute einfacher, im Internet Geld zu verdienen. Dienstleister wie Patreon, Steady in Deutschland oder Substack schaffen Infrastrukturen, mit denen auch kleinere Publisher und Solo-Entrepreneure arbeiten können. Die Zahlungsbereitschaft der eigenen Leser in Geld umzuwandeln, ist weniger aufwendig als der Vertrieb von Werbung – bei geringer Kostenstruktur machen sich die Umsätze schnell auch unterm Strich bemerkbar.
Casey Newton rechnet vor: „Wenn man 10.000 Leute findet, die 100 Dollar pro Jahr bezahlen, kommt man auf eine Million pro Jahr. Niemand in den Medien wird einem das bezahlen, solange sie kein Anchor einer beliebten Nachrichtensendung sind.“ Und: „Ich muss nur 2000 dieser Leute finden, um einen wirklich guten Job zu haben. Nur 1000 Leute, um noch immer ein besseres Gehalt zu haben als die Mehrheit aller Journalisten in Amerika.“
Emily Atkin erreichte laut Washington Post zuletzt rund 2800 Nutzer, die zwischen 50 und 75 US-Dollar im Jahr zahlen – macht zwischen 140.000 und 210.000 Dollar Bruttoumsatz. Auch angesichts des schrumpfenden Arbeitsmarktes entwickelt sich das eigene Newsletter-Geschäft für Journalisten zur attraktiven Alternative.
Neue Tech-Anbieter mobilisieren einzelne Journalisten
Der Trend in den USA ist (noch) kein natürlicher. Viele Journalisten – vor allem namhafte – werden von den neuen Anbietern gelockt. Allen voran dem Newsletter-Dienst Substack, für den sich alle der oben genannten Beispiele entschieden haben. Das US-Unternehmen unternimmt massive Anstrengungen, Journalisten und Autoren für sich zu gewinnen, leistet ihnen beispielsweise eine Anschubfinanzierung. Emily Atkinson bekam 20.000 Dollar zum Aufbau ihrer Selbstständigkeit, Casey Newton sicherte das Start-up, das seit 2017 am Markt ist, Rechtsschutz und Zuschuss für die Sozialversicherung zu. Der Rechtsschutz ist Programm, genauso wie Stipendien in Höhe von bis zu 100.000 Euro oder Mentorenprogramme. Das ausgegebene Geld holt sich Substack zum Teil über Zuschläge auf die reguläre Provision in Höhe von zehn Prozent wieder zurück. Vergangenes Jahr sammelten die Gründer in einer Finanzierungsrunde zudem 15,3 Millionen US-Dollar ein.
Journalisten folgen Influencern: Neue Ökosysteme wachsen
„Im Journalismus geschieht gerade das, was wir bereits bei YouTube- oder TikTok-Creators erlebt haben. Sie wollten sich nie einer anderen Identität anschließen, sondern ihr eigenes Geschäft machen“, beobachtet Brian Morrissey. Der langjährige Chefredakteur und President des internationalen Mediendienstes Digiday, wo er vor einigen Wochen ausgeschieden ist, hat gerade selbst seinen Newsletter The Rebooting gestartet. Gegenüber Medieninsider sagt er: „Neue Tech-Plattformen machen es für Journalisten nun einfacher.“
Dass sie Journalisten und Autoren beim Aufbau ihrer Microbrands helfen, ist dabei Hilfe zur Selbsthilfe. „Für ein funktionierendes Ökosystem braucht man einen guten Mittelstand“, sagt Morrissey. Ein paar Leuchttürme reichten nicht, wenn sich das System für alle anderen nicht lohne. „Gute Journalisten sind oft zynisch und skeptisch zugleich – Attribute, die man als Gründer nicht gebrauchen kann“, sagt Morrissey. „Die Anbieter müssen das Risiko der Journalisten minimieren, wenn sie sie gewinnen wollen.“
Auch wenn sie ihren schreibenden Partnern so entgegen kommen, wird das womöglich nicht genug sein. Ihre Technologien nehmen zwar bereits einen wichtigen Teil der Arbeit ab, ums Marketing oder Audience Development müssten sie sich aber dennoch kümmern. „Die Infrastruktur eines Medienunternehmens hat noch eine Menge zu bieten“, sagt Morrissey, auch wenn er nicht ausschließt, dass es auch in diesen Bereichen bald Lösungen geben kann.
Ein deutscher Casey Newton fehlt noch
Bleibt die Frage, ob so ein Trend auch in Deutschland möglich ist. Während sich Substack derzeit vor allem auf den US-Markt konzentriert, positioniert sich Revue als europäische Alternative. Aktuell ist nichts darüber bekannt, dass das niederländische Start-up genauso radikal Autoren und Journalisten anwirbt wie das US-Pendant. Stattdessen setzt Revue offenbar eher auf Kooperationen mit Medienhäusern statt einzelner Journalisten.
Dennoch sind Anzeichen des Trends erkennbar, wenn auch aus anderer Motivation heraus. So gründete der Journalist Gabor Steingart sein Start-up**, das hauptsächlich auf die Produktion von Newslettern und Podcasts setzt, erst nach seinem Rauswurf beim Handelsblatt. Gleichzeitig stieg der Axel-Springer-Konzern mit Geld und infrastruktureller Unterstützung ein.
Namhafte Journalisten wie Casey Newton, die ihre Anstellung bewusst aufgeben, um ihre eigene Marke zu platzieren, fehlen noch.
„Einige der besten könnten gehen“
„Die USA sind uns in der Disruption des Medienmarktes auch hier voraus“, sagt Christian Zabel, Professor an Technischen Hochschule in Köln und Sprecher der Fachgruppe Medienökonomie der DGPUK. Die Covid-19-Pandemie hätten die Eruptionen zudem verstärkt, stellten Journalisten dort unter größeren Zugzwang. Die Nische in Deutschland wachse aber auch hier, Nutzer seien bereit für tiefergehende Informationen zu bezahlen. „Denken Sie nur an die Sektoranalysen, die sich Medienhäuser bereits zum großen Teil von Unternehmensberatungen haben abnehmen lassen.“
Zabel schließt nicht aus, dass sich einzelne Journalisten hier als vom Medienhaus losgelöste Marken etablieren können, weist aber auch auf die Größe des englischsprachigen Marktes hin. „Wenn ich mir beispielsweise die Tech-Berichterstattung anschaue, lässt sich in den USA sicher davon leben. Mit Blick auf Deutschland wird der Markt relativ schnell klein.“
Bislang aber wächst steigt die Reichweite einzelner Journalisten, was nicht nur ihre zunehmenden Follower in sozialen Netzwerken zeigen. Ein Beispiel ist der US-Korrespondent Fabian Reinbold. Neben seiner Tätigkeit für T-Online in Washington betreibt er seit einigen Monaten einen eigenen, wöchentlichen (und kostenlosen) Newsletter. Nach 89 Ausgaben zählt er mehr als 32.000 Abonnenten. (Leider hat er vor der US-Wahl keine Zeit, seine Erfahrungen und bisherigen Erkenntnisse zu teilen. Wir werden aber versuchen, das nachzuholen.)
Für die etablierten Medien kann darin eine gewisse Gefahr entstehen. Wissenschaftler Zabel sagt: „Wie immer wird der Wandel von den Agilen getrieben und von denen, die das größte Potenzial haben.“ Heißt: „Einige der Besten könnten gehen, wohingegen der Durchschnitt wohl eher bleibt.“ Und auch Morrissey meint: „Zweifellos werden Medienunternehmen ihren Superstars, die mehr Wert bringen als sie selbst vielleicht erhalten, neue Deals unterbreiten müssen.“
Zukunftsfrage: Schafft Substack das Netflix für Journalismus?
Aber auch Morrissey warnt vor Romantik: „Vieles klingt gerade sehr einfach, das ist es aber nicht. Alles in der Medienindustrie ist hart.“ Im Anschluss des Gesprächs schreibt er in Woche drauf in der aktuellen Ausgabe seines Newsletters: „Die Substack-Revolution ist real und zugleich übertrieben.“ Aber: „Trotzdem werden wir weitere große Namen sehen, die der Casey-Newton-Route folgen werden.“
Was dann passieren könnte ist, dass der Markt schnell größer sein wird als die Nachfrage. „Menschen sind zwar zunehmend bereit, für digitalen Content zu bezahlen. Es gibt aber ein Limit“, sagt Morrissey. Doch auch hier zeigen sich in den USA bereits erste Bewegungen. Dort haben die beiden Autoren Nathan Baschez und Dan Shipper ihre Kräfte bereits gebündelt und ein gemeinsames Abo-Modell geschaffen. Dass Bundles Schule machen werden, glaubt auch Casey Newton. Die Frage ist nur, wie. „Wird es so sein, dass jeder seinen A-la-Carte-Preis aufruft und sich vereinzelt mit anderen, befreundeten Autoren zusammenschließt oder wird jemand ein Netflix für Substack machen? Nun gelte es, genau dies herauszufinden.
* Das Beispiel von Glenn Greenwald wurde aufgrund seiner Prominenz und Brisanz nach Bekanntwerden am 29.10 nachträglich eingefügt.
** Ich habe ein Jahr lang für Steingarts Start-up Media Pioneer gearbeitet.
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