Würdest du Attila Hildmann zum Interview treffen?

Der Lese-Letter #30/20

TitelfotoSpiegel

Hallo Medieninsider!

Ich beginne den Newsletter dieser Woche mit Meinung, denn eine Sache hat mich doch sehr verwundert. Es geht um ein Porträt über den Extremisten und Radikalisierer Attila Hildmann, das im Spiegel erschienen ist – beziehungsweise um die Kritik daran. 

Hildmann ist der Mann, der mal eine Karriere als Vegan-Guru hatte, Kochbücher schrieb und Gastronomie in Berlin betreibt. Durchgeknallt bis aggressiv wie auch radikal war er dabei schon immer. Seit einigen Monaten steht Hildmann jetzt aber weniger hinterm Herd, dafür vermehrt auf öffentlichen Plätzen Berlins. Statt Kochschürze trägt er jetzt Reichsflagge. Auch damit erreicht er Tausende Menschen.

Hildmann-Porträt im Spiegel, Foto: Spiegel

Mit dem sollte man sich mal auseinandersetzen, hat sich auch der Spiegel gedacht. Er ist einer Einladung Hildmanns zum Waldspaziergang gefolgt.

Klingt komisch, liest sich auch komisch. Und einigen passt das gar nicht.

In den sozialen Medien, allen voran auf Twitter, liefen die Kritiker heiß. Kurz zusammengefasst:

Hildmann, dem Rechtsradikalen, eine Bühne zu bieten, das geht gar nicht. Überhöhung pur. 

Spitzfindige Speerspitze der Spiegel-Kritik war Medienkritiker Stefan Niggemeier, der den Spiegel-Autoren so etwas wie Verharmlosung durch Naivität zu unterstellen versucht.

Die Autoren hätten Hildmann das Bild des Waldburschen, des „Sanften“ (Zitat Niggemeier) abgekauft und transportiert. Zu Beginn ihres Textes hatten sie nämlich beschrieben, wie Hildmann einen auf dem Rücken liegenden Käfer rettet.

Generell hätten sie „der Inszenierung Hildmanns breiten Raum“ eingeräumt und dann ließen sie ihn auch noch Nähe zu Hitler aufbauen. Niggemeier:

„So formuliert, möchte man sich seiner Bewegung fast anschließen, dem Spiegel sei Dank.“

Als der Spiegel Hildmann den Grünen-Politiker Volker Beck dann noch als „Pädophilen“ bezeichnen lässt, ist klar: 

„Die Inszenierung lässt nicht Hildmann irre wirken, sondern Beck gefährlich.“

„Vermutlich soll die Geschichte Hildmann klein wirken lassen. Klein wirkt stattdessen der Spiegel.“

Niggemeiers long story short: Der Spiegel hat Hildmann zu einfach davonkommen lassen, ihn nicht richtig rangenommen und enttarnt. Damit auch wirklich jeder versteht, dass Hildmann ein durchgeknallter Nazi ist!

Man kann es aber auch anders sehen.

Die Autoren haben – und das ist deutlich schwieriger –beschrieben statt diktiert. Sie haben dem Leser zugetraut, selbst in die „Reflexionstiefe“, die der Kritiker vermisst, gehen zu können. 

Man kann das Stück als plump und verharmlosend verstehen, wenn man unbedingt will. Man kann es aber auch anspruchsvollen Mix aus Porträt und Glosse lesen, der ein eigenes Urteil zulässt. Das setzt voraus, dass man den Leser auch noch selbst denken lassen möchte. 

Möglicherweise machen diese zwei (von wohl noch mehr) Lesarten den Artikel zu einem guten – zu einem lesenswerten allemal.

Deshalb findest du das Porträt über Attila Hildmann hinter diesem Link. Niggemeiers Kritik steht bei Übermedien


Mehr News aus der Woche

New York Times schafft Tracking ab – ohne „Pur-Abo“

Während in Deutschland so genannte „Pur-Abos“ im Kommen sind, mit denen sich Nutzer bei journalistischen Angeboten Werbe- und vor allem (so soll es zumindest sein) Trackingfreiheit erkaufen können geht die New York Times einen anderen Weg.

Sie will das Third-Party-Tracking abschaffen und damit auch Programmatic Advertising. Zweck sei der Schutz der Privatsphäre und damit die Glaubwürdigkeit. Man wolle andere Wege finden, attraktive Werbeangebote zu machen, erklärt Robin Berjon, VP Data Governance bei der NYT, in einem Blogpost.

Podcast-Werbung legt weiter zu

Der Bundesverband Digitale Wirtschaft untermauert den Podcast-Boom mit neuen Zahlen aus dem Werbemarkt. Laut der Fokus-Gruppe Audio sollen die Umsätze aus Werbung im deutschen Podast-Markt in diesem Jahr auf 14 Millionen Euro steigen. 2019 waren es noch neun Millionen Euro. Auch der generelle Markt Online-Audio wächst weiter. In diesem Jahr sollen Umsätze von mehr als 70 Millionen Euro erzielt werden, so der Verband. 2019 waren es 63 Millionen Euro, 2017 noch 35 Millionen Euro.

Hans-Ulrich Jörges hört auf – jetzt aber wirklich

Die Bundeskanzlerin kann einen inoffiziellen, aber persönlichen Erfolg verbuchen: Sie hat Hans-Ulrich Jörges geschlagen. Nach 18 Jahren veröffentlicht der Journalist nun seine letzte stern-Kolumne, weil sein Vertrag ausläuft. Er scheidet damit früher aus dem Amt als die Kanzlerin, deren letzte Amtszeit er seit Jahren fast schon zwanghaft herbeischreiben wollte. 

Auch wenn er es nicht lassen konnte, wusste Jörges immer um seine Schwäche. 2017, als er offiziell das Rentenalter erreichte, sich vom stern, aber noch nicht trennen wollte, habe ich ihn zum Interview getroffen. Er gab zu:

„Ich bin tendenziell zu leichtfertig mit Prognosen.“

Es war ein langes, für mich als Jungjournalist sehr spannendes Gespräch über den Journalismus und die Politik und damals und heute, über Haltung im Journalismus, über seine Rolle im Journalismus und beim stern, dessen „Außenminister“ er immer war, aber dessen Chefredakteur er nie wurde.

Ich hatte Jörges damals auch gefragt, was er nach dem Schreiben machen werde:

„Dann boxe ich dreimal die Woche und fahre freitags Trabrennen in Karlshorst.“


Was wurde oder wird eigentlich aus Scroll?

Sagt dir Scroll (noch) etwas? Ein – Achtung – Spotify für Journalismus, das der ehemalige Chartbeat-CEO Tony Haile vor einigen Jahren gegründet hat. Scroll soll aber nicht funktionieren wie Blendle es einst versucht hat (Einzelverkauf), sondern per Abo, mit dem Nutzer auf zahlreiche (Premium-)Medieninhalte zugreifen können. Readly auch mit Online-Medien und – hier liegt der USP – ohne Werbung sozusagen.

Digiday kam jetzt auf die Idee, mal nachzuhorchen, wie es um das lang und groß angekündigte Produkt so steht. Erst vor einem halben Jahr ging Scroll – das namhafte Investoren wie Axel Springer, die New York Times Company (waren auch bei Blendle schon dabei) und News Corp hat – an den Start. Und es sieht offenbar nicht so rosig aus

Nur 5 US-Dollar pro Monat kostet Scroll (die ersten sechs Monate sogar nur 2,50 Dollar) und führt laut Digiday dafür mehr als 300 Medien im Portfolio – darunter Vox MediaThe AtlanticBusiness Insider. Der Share, der sich nach der Verweildauer bei einzelnen Medien richtet, ist überschaubar – von einer Handvoll Dollar für einige Publisher wird bei Digiday berichtet.

Das Problem: Scroll fehlt die Reichweite und Haile hat offenbar Schwierigkeiten, sie zu besorgen. Die Medienpartner sind zurückhaltend mit der Bewerbung von Scroll, ein als fast in trockenen Tüchern angekündigter Deal mit Mozilla für eine Browser-Erweiterung lässt auf sich warten. 

Den gesamten Didigay-Artikel findest du hier.


Lesetipp

Die neue New York Times-CEO im Interview

Im September wird Meredith Levien vom COO zum CEO der New York Times Company aufsteigen. Bereits jetzt hat die Frau, die bereits die Verantwortung für Werbe-, Abogeschäft und Produktentwicklung trägt und damit das Herzstück des Unternehmens leitet, ein Interview gegeben. Mit Ken Doctor sprach sie über ihren Werdegang und wie sie gedenkt, die NYT weiter in die Zukunft zu führen. Nachfolgend ein paar interessante Fakten und Zitate aus dem Interview, das du in voller Länge hier nachlesen kannst

  • Die New York Times steht personell sehr gut da. 1700 Mitglieder umfasst der Newsroom, 2013 waren es 1100.
  • Auch die Produktentwicklung kann sich sehen lassen: 700 Mitarbeiter optimieren und entwickeln Ideen für modernen Journalismus. Levien sagt:

„Engineering ist heute der zweitgrößte Unternehmensbereich hinter dem Journalismus und die größte Einheit auf Verlagsseite“

  • Sechs Millionen zahlende Digital-Abonnenten verbucht die NYT derzeit, zehn Millionen sollen es im Jahr 2025 sein. Helfen soll dabei nicht nur erstklassiger Journalismus. Leviens hält fest:

„Es geht darum, die NYT als erstklassiges digitales Produkt- und Technologieunternehmen zu etablieren, wie sie auch ein erstklassiges Journalismusunternehmen ist.“

Beim Thema Diversity und Arbeitsklima mache man große Fortschritte, zufrieden seien sie wie auch ihr Vorgänger Mark Thompson aber noch nicht.

„Dies sollte ein Ort sein, an dem die talentiertesten Leute aus den Bereichen Journalismus, digitales Produkt und Technologie arbeiten können. Hier können sie die beste Arbeit ihrer Karriere leisten.  Es wird meine Aufgabe als CEO sein, dafür zu sorgen, dass dies geschehen kann.“

Hab noch eine schöne Woche! 

Viele Grüße
Marvin

Wenn dir der Artikel gefällt, dann teile ihn in sozialen Netzwerken, aber nicht als PDF innerhalb deiner Organisation. Dafür ist eine Lizenz notwendig.

Mehr zum Thema

Holger Friedrich, Eigentümer Berliner Verlag, Foto: Fabian Schrum

Holger Friedrich will seine eigenen Fakten verbieten lassen

0
Medieninsider berichtet über eine Top-Personalie bei der Berliner Zeitung. Anschließend kommt Post vom Anwalt. Verleger Holger Friedrich fordert eine Unterlassung für pure Nebensächlichkeiten – die nicht einmal falsch sind. 

DPA: Medienkorrespondentin Anna Ringle geht nach Washington

0
Seit 2019 berichtete Anna Ringle als Medienkorrespondentin für die DPA – nun geht sie nach Washington.

Was Gabor Steingarts umstrittener Bettelbrief verschweigt

0
Der Pioneer-Kapitän ist mit Hannah Arendt auf Irrfahrt. Axel Springer verkündet kurz vor Weihnachten Hiobsbotschaften. Der WDR zahlt den Münster-Tatort-Darstellern Hunderttausende. Das und mehr diese Woche im Lese-Letter.
Marvin Schade
Marvin Schadehttps://medieninsider.com
Marvin ist Co-Gründer und Founding Editor von Medieninsider und hat sich damit einen kleinen Traum erfüllt. Vor der Gründung war er mehrere Jahre für den Branchendienst Meedia in Hamburg und Berlin tätig, arbeitete kurz beim Focus Magazin und zuletzt für Gabor Steingarts Morning Briefing.

DEINE MEINUNG IST GEFRAGT

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Hier Namen eintragen

WERBUNG

Wie Tidely Medienunternehmen hilft, die Finanzen im Überblick zu behalten

0
Tidely hilft kleinen und mittelgroßen Firmen dabei, einen Überblick über die Finanzdaten zu halten – und Pläne ständig anzupassen. Denn eine Liquiditätsplanung ist essentiell für jedes Unternehmen.