Alan Rusbridger: Journalismus im Kulturkampf

Der ehemalige Guardian-Chef über Medien in einer polarisierten Gesellschaft und Klima-Journalismus

Trotz gestiegenen Vertrauens in die Berichterstattung ist die Stimmung gegenüber dem Journalismus aufgeheizt – nicht nur in Deutschland. Das weiß auch Alan Rusbridger zu berichten. Im Interview spricht der Journalist, der 20 Jahre lang den britischen Guardian als Chefredakteur prägte, über die Rolle der Medien in einer polarisierten Welt, über das noch immer schwierige Verhältnis zu jungen Menschen, die Bedeutung von Klima-Journalismus und öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Kritik an der eigenen Branche hält er nicht zurück.

Medieninsider: Alan, Ihr aktuellster Vortrag trägt den Titel „Why should they believe us“, darin geht es auch um das geringe Vertrauen in den Journalismus. Die Zahlen zeigen, dass während der Corona-Pandemie in vielen Ländern das Vertrauen in die Medien gestiegen ist. Gleichzeitig positioniert sich eine Minderheit zunehmend radikal gegen die Medien. Wie erklären Sie das? 

Alan Rusbridger: Es gibt eine populistische Bewegung gegen Eliten, die nun auch den Journalismus mit einbezieht. Wir Journalisten müssen uns fragen: Wie konnte das geschehen? Aus meiner Sicht gibt es einige Gründe: Einer ist, dass Redaktionen sehr homogen geworden sind. Der Journalismus hat sich ein wenig von der Gesellschaft entfernt, weil er aus der Perspektive der besser Gebildeten gemacht wird. So wie Politiker gelernt haben, das Spiel der Medien zu spielen, haben Medien das politische Spiel gelernt. Es ist etwas Wahres dran, wenn Populisten sagen, Journalisten stehen alle auf derselben Seite. Journalisten haben es außerdem zugelassen, Teil eines Kulturkampfes zu werden. 

Können Sie das genauer erklären?

Nehmen wir als Beispiel den Klimawandel. Journalisten haben ihn zu einem kulturellen Thema gemacht, bei dem es um das Dafür oder Dagegen ging, und ihn nicht als wissenschaftliches Thema behandelt. In der Covid-Pandemie ist das Gleiche geschehen. In Großbritannien haben sich einige Medien entschieden, eine klare Position gegen Lockdowns zu beziehen.

Anders als zum Beispiel in Deutschland sind die Medien in Großbritannien in der Mehrheit konservativ.

Genau. Sie fahren keine Kampagne gegen das Impfen, vertreten aber diese radikale Position für Freiheit. Die steht jedoch in keiner Relation zur Gesundheit der Bevölkerung und hört auch nicht darauf, was die Wissenschaft sagt. Sicher ist dieser Vorwurf nicht fair zu allen Medien, die meisten geben in sehr schwierigen Zeiten ihr Bestes. Trotzdem muss sich der Journalismus nach seiner Mitverantwortung für die aktuelle Entwicklung fragen. 

Sie sagen schon seit einigen Jahren, der Klimawandel sei das Thema Nummer eins für den Journalismus, und der habe dabei versagt. Was werfen Sie den Kolleginnen und Kollegen vor? 

Seit einiger Zeit häufen sich die Beweise, dass der Klimawandel ein drängendes Problem ist und uns verspätete Konsequenzen nur teurer zu stehen kommen. Anstatt das ernst zu nehmen und in der Berichterstattung entsprechend zu würdigen, ist das Gegenteil geschehen. Viele Redaktionen haben ihre Wissenschaftsredaktionen ausgedünnt, Reporterteams für dieses Thema wieder abgeschafft. Das haben sie auch getan, weil man in der Vergangenheit mit diesem Thema vielleicht nicht so viele Klicks generieren oder Abos verkaufen konnte. Außerdem haben sich die Medien gerade bei dem Thema den besagten Kulturkampf geleistet.

In der Lesart: Sage mir, ob du an den Klimawandel glaubst, dann sage ich dir deine politische Einstellung?

Richtig. Das alles ist ein fürchterlicher Fehler des Journalismus. Es wirkt so, als kümmerten sich Journalisten mehr um Meinung über Politik als um Fakten. Das erschüttert das Vertrauen in den Journalismus allgemein. 

Was denken Sie über den Grundsatz der journalistischen Neutralität? Laut Digital News Report hält die Mehrheit des Publikums sie hoch, vor allem die ältere Generation. In den öffentlich-rechtlichen Medien ist sie eine Art Religion. Viele junge Menschen werfen Journalisten aber vor, dass es Neutralität nie gegeben hat und mehr Perspektiven aufgezeigt werden müssten. 

Das Problem fängt bereits damit an, dass Neutralität ein sehr schwieriger Begriff ist. In Großbritannien führen wir gerade eine große Debatte über die Unparteilichkeit in einer Welt, in der die meisten Zeitungen rechts stehen. Aus dieser Perspektive steht die BBC, die sich als streng neutral beschreiben würde, aber schon links. Es wird zwischen diesen Polen keine Einigkeit darüber geben, was Überparteilichkeit ist. Die junge Generation wächst nun mit einem Verständnis auf, dass Journalismus voreingenommen sei. 

Um beim Klima-Journalismus zu bleiben: Das ist das Thema, das junge Menschen besonders bewegt und beschäftigt. Das sage nicht ich, sondern diverse wissenschaftliche Umfragen. Denken Sie, der Journalismus bekommt da noch die Kurve?

Ich glaube, dass sich da gerade etwas ändert. Das hat einerseits mit einem neuen Wertesystem zu tun, das in jüngeren Generationen vorzufinden ist, aber auch weil die Gesellschaft umzudenken beginnt. Ich glaube, in den besseren Medienhäusern ist der Groschen gefallen, dass eine Person allein nicht ausreicht, um sich inhaltlich mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen. Der Klimawandel hat Einfluss auf die Wirtschaft, auf Migration, Sicherheit und viele weitere Bereiche des Lebens. 

Sie sind als Journalist vom investigativen Journalismus geprägt, der Missstände aufspürt. Gerade beim Thema Klima fordern Sie aber lösungsorientierten Journalismus. Was muss sich ändern? 

Der Klimawandel findet auf den Titelseiten kaum statt. Das liegt auch daran, weil sich an der Story so schnell nicht viel ändern wird. Nur wenn es Katastrophen gibt, wird das Thema groß gespielt. Dem Journalismus fällt es schwer, damit umzugehen. Es ist ja selbst für Wissenschaftler schwierig, solche Ereignisse definitiv auf den Klimawandel zurückzuführen. Der Journalismus muss einen Weg finden, den Menschen das Thema genau und anschaulich zu erklären.

Sie sagen, Journalismus sei für junge Menschen zu negativ. 

Es fällt Journalisten schwer, positive Ergebnisse oder Ereignisse zu feiern. Es gilt das Motto „what bleeds, leads“ und damit liegst du nicht unbedingt falsch, wenn dein Geschäftsmodell sehr auf Reichweite ausgerichtet ist. Immer die Sensation hervorzuheben, verzerrt aber die Wahrnehmung. Der Psychologe George Marshall sagt, dass Menschen physiologisch nicht damit umgehen können, zu viel Angst zu haben. Deshalb ist es sinnvoll, sich darauf zu konzentrieren, wie manche Dinge besser gemacht werden können. Den Menschen Lösungen aufzuzeigen und zu erklären, wie sie sich einbringen können, ist besser, als ihnen Angst einzujagen und ihnen zu sagen, dass sie alle sterben werden. 

Sind Menschen bereit, für so einen Journalismus zu bezahlen? 

Wenn Menschen für irgendeine Art von Nachrichten bezahlen, dann werden sie das eher für so eine Art von Journalismus tun. Es geht darum, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, die Menschen bewegen, ihnen Lösungen aufzuzeigen und ihnen das Gefühl zu geben, ihr Handeln und ihre Meinung tragen zu etwas bei. In einer Gesellschaft, in der du das Gefühl hast, deine Stimme ist nichts wert, wird sich nichts verändern. Das ist etwas, das wir in Großbritannien erleben, wo sich die politische Macht in London zentriert und lokalen Regierungen beispielsweise Macht genommen wird. 

Der Journalismus arbeitet stellenweise an einer Re-Lokalisierung, auch in Großbritannien. Die BBC verlagert Journalisten von der Hauptstadt zurück in Regionen, ähnliches ist in Schweden geschehen. Wird das helfen?

Das wird seinen Teil dazu beitragen, auch um an die Menschen wieder etwas näher heranzurücken. Es bringt aber nicht viel, einen Reporter dorthin zu versetzen, wo keine Macht ist. Etwas zu verändern, liegt nicht nur an den Medien, sondern auch an der Regierung.

In Deutschland ist Macht nicht so zentralisiert, dennoch leiden vor allem Regionalzeitungen wirtschaftlich. Welche Rolle werden öffentlich-rechtliche Medien spielen und wie sieht ihre Zukunft aus?

Rundfunkgebühren zu zahlen oder stattdessen ins Gefängnis zu gehen – so ist zumindest bislang die Drohung – verschafft dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein gutes Geschäftsmodell, mit dem sich Tausende Jobs im Journalismus halten lassen. Damit sind alle Voraussetzungen erfüllt, das zu leisten, worüber wir eben gesprochen haben. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss nicht nach Sensationen jagen, sondern er kann so ernsthaft sein, wie er will. Mit Blick auf Großbritannien kann ich sagen: Das ist eine wichtige Rolle, weil einem ansonsten sehr viel Meinung begegnet. 

Ist das die Zukunft des Mediensystems? Es gibt einen möglichst neutralen und seriösen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und meinungsgetriebene kommerzielle Medien? 

Wenn man ins Blaue denkt, kann es auch sein, dass es in manchen Regionen kaum noch oder gar keine Lokalzeitungen mehr geben wird, weil ihnen das Geschäftsmodell wegbricht. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk das auffangen kann, gibt es keinen Grund mehr, ihn abzuschaffen – außer eben die Ideologie. 

Also glauben Sie, lokaler Journalismus hat keine wirtschaftliche Zukunft? 

Nein, ich sage: Sollte es so kommen. Wir sehen doch schon in vielen Teilen der Welt, dass sich Nachrichtenwüsten ausbreiten. Was will man diesen Regionen später sagen? Es war ein hartes Geschäft, sorry, dass es nicht geklappt hat? Oder will man noch auf ein Medium wie die BBC zurückgreifen? 

… die von der Johnson-Regierung derzeit stark attackiert wird.

Wie bange den lokalen Medien ist, erkennt man an ihrem Verhalten gegen die BBC. BBC Local Radio beispielsweise macht eine qualitativ gute Arbeit, private Medien aber fahren Kampagnen gegen die öffentlich-rechtlichen Medien und behaupten, sie seien der Grund, weshalb sie nicht bestehen können. Da kann ich nur sagen: Die Belege aus den USA sprechen eine andere Sprache. Dort fehlt der große öffentlich-rechtliche Rundfunk und trotzdem sterben Zeitungen. Das kann man nicht allein der New York Times zuschieben. Will man also wirklich ein funktionierendes Modell aus reiner Boshaftigkeit zerstören? Nur weil man ideologisch gegen die gesellschaftliche Finanzierung ist?

Sprechen wir nicht über die Zukunft des Journalismus, sondern über die Zukunft der Journalisten. Junge Menschen finden Influencer häufig spannender als Journalisten. Werden überhaupt noch genug von ihnen den Beruf ergreifen wollen?

Wir sollten uns erst einmal fragen, weshalb Influencer überhaupt so gut ankommen: Sie sehen aus wie die Menschen, die ihnen folgen. Sie sprechen wie sie und es sieht so aus, als bewegten sie dieselben Themen und Sorgen. Man muss die jungen Leute davon überzeugen, dass es etwas gibt, das sich professioneller Journalismus nennt und deutlich besser ist als alles, was diese so genannten Influencer bieten können. Journalisten liefern keine gute Arbeit ab, wenn sie unter Recherche verstehen, bei den Google-Ergebnissen auch mal auf Seite zwei oder drei zu klicken. Journalismus muss beweisen, dass er Wert schafft und deutlich besser für eine Gesellschaft ist.  

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Alexandra Borchardt
Alexandra Borchardthttps://alexandraborchardt.com/
Dr. Alexandra Borchardt ist Journalistin mit mehr als 25 Jahren Berufspraxis, 15 davon in Führungspositionen (Süddeutsche Zeitung, Plan W). Sie ist Buchautorin, Beraterin und Medienforscherin mit besonderem Blick für Leadership und Digitalisierung.

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