Millennial-Medien und die Frage nach ihrer Perspektive

TitelfotoPhilipp Sipos

Bento und Noizz: eingestellt. Ze.tt: als eigene Plattform aufgelöst. BuzzFeed Deutschland: verkauft, bevor es so weit kam. Bei Ströers Watson und Vice Deutschland ging es 2020 nicht ohne Kurzarbeit. Millennial-Medien haben es wirtschaftlich schwer, nachhaltig funktionierende Geschäftsmodelle wurden bislang noch nicht wirklich gefunden. Braucht es junge Medien in ihrer Form dann überhaupt?

Klar, sagt Felix Dachsel. Als Chefredakteur von Vice Deutschland muss er das auch. Im Interview nennt er seine Argumente und diskutiert mit Medieninsider Founding Editor Marvin Schade über wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Entwicklung des Millennial-Marktes und die Suche nach Geschäftsmodellen für eine Zielgruppe, bei der Markenbindung noch einmal schwieriger ist als üblich.

Medieninsider: Du hast jüngst einen beachteten Beitrag darüber geschrieben, was etablierte Medien von jungen lernen können. Darin hast du zwei Fragen aufgeworfen, die mir persönlich nicht beantwortet worden sind. Darum soll es heute gehen. Warum braucht es eigentlich jungen Journalismus und wie kann er fortbestehen? 

Felix Dachsel: Es braucht ihn, damit die Themen, die junge Menschen beschäftigen, ihren Platz in den Medien finden. So gut eine Redaktion auch sein mag: Die Auswahl ihrer Themen erfolgt immer auch aus der Situation heraus, in der sich ihre Redakteurinnen und Redakteure befinden. Das heißt: Viele junge, digitale Themen laufen oft unter dem Radar der oft älteren Redaktionen. Solange das so ist, braucht es junge Medien wie Vice.

Ist das der Unterschied, weshalb es Vice noch gibt? Bento, Ze.tt, Noizz kommen aus Häusern mit den angesprochenen, alten Strukturen. Sie sind teils aufgelöst oder eingestellt worden. Kann aus etablierten Häusern heraus überhaupt etwas für neue Generationen entstehen?

Das ist eine interessante Beobachtung. Bento, Ze.tt und Noizz haben meinen größten Respekt. Ich glaube aber, dass sich Ausgründungen traditioneller Medien noch einmal schwerer damit tun, immer wieder einen Generationensprung zu schaffen, sich immer wieder zu erneuern, nicht mit der Zielgruppe mitzualtern und sie letztlich zu verlieren. Der Unterschied ist auch, dass man sich in etablierten Häusern kurzfristig überlegt hat, auch junge Menschen ansprechen zu wollen. Bei Vice oder BuzzFeed hat das fast schon Tradition, wenn man so will. Wir haben beispielsweise unsere Einstellung geändert. Jugendlichkeit machen wir nicht mehr nur am biologischen Alter fest, sondern an der Einstellung. 

Das klingt nach einem Argument, mit dem man erklären will, eben doch mit der Zielgruppe mitzualtern – sich eben nicht zu erneuern. 

Das ist tatsächliches Wissen auf Basis von Befragungen und Marktforschung. Es gibt mittlerweile viele Ansichten, die nicht mehr in nur einer Generation anzutreffen sind. Siehe Fridays for Future. Es gibt an vielen Stellen zwar immer noch ein Gefühl von Jung gegen Alt, das Verhältnis ist aber komplexer geworden. Natürlich stimmt es aber auch, dass wir als privatwirtschaftliches Medium auf nach dem Alter gerichtete Zielgruppen schauen müssen. Die Werberelevanten müssen wir ebenso erreichen. 

Welche Halbwertszeit hat der Vice-Chefredakteur?

Ich merke, dass ich aus jugendlicher Sicht mit 33 Jahren ein alter Mann bin. Mit 40 Jahren werde ich es nicht mehr machen können. Du merkst, ich gehe bei der Antwort auf Nummer sicher. 

Mit anderen Worten: Du hast vor, dich noch lange jung zu fühlen. 

Es gibt logischerweise ein biologisches Alter, bei dem das alles nicht mehr so wirklich Sinn macht. Ich muss als Chefredakteur von Vice wissen, wie man junge Leute erreicht. Das gelingt mir nur, weil wir junge Kolleginnen und Kollegen haben, durch die das Wissen über andere Lebenswelten erhalten bleibt. Das ist aber keine dauerhafte Lösung, niemand will sich lächerlich machen. 

Wenn wir über die Existenz von jungen Medien sprechen wollen, können wir die wirtschaftliche Ebene nicht ausblenden. BuzzFeed Deutschland existiert nur noch, weil ein Käufer dafür gefunden wurde. Der Markt in den USA konsolidiert sich gerade, Vice musste international schon mehrfach Stellen abbauen. Gibt es überhaupt einen Markt für junge Medien?

Es gibt uns ja, und das ist die Antwort. Es wird uns auch weiterhin geben. Wir können auf eine Menge stolz sein, auch darauf, dass Vice diversifiziert aufgestellt ist. Ob mit Virtue, der Kreativagentur, oder den Vice Studios, die mit und für Netflix produzieren. Diese Bereiche stützen sich gegenseitig, soweit ich das als Chefredakteur von Vice Deutschland beurteilen kann. 

Dann sprechen wir über Deutschland. Vice war in Kurzarbeit, in den vergangenen Jahren wurden Ableger wie Motherboard, Munchies, Vice Sports eingestampft, die Märkte und Redaktionen Deutschland, Österreich und Schweiz wurden zusammengelegt. Wie können junge Medien wirtschaftlich bestehen?

Dass wir unterschiedliche Untermarken aufgelöst und unter einer Marke gebündelt haben, ist strategisch nachvollziehbar. Ich kann auf die Frage aber nur antworten, dass ich nach diesem katastrophalen Jahr 2020 froh bin, dass wir das alles irgendwie hinbekommen haben. Grundsätzlich ist es richtig, dass das Mittel der Kurzarbeit im Journalismus hinterfragt werden muss. Denn klar ist auch: Fußballspiele oder Konzerte fallen zwar aus, kritisch recherchieren kann und muss man trotzdem. In Krisenzeiten ist Journalismus besonders wichtig. Trotzdem mussten Arbeitsplätze gesichert oder gerettet werden. Ich werde trotz alledem nicht negativ in die Zukunft schauen und Pessimismus raushängen lassen. Man muss die Umstände auch in Relation zu dem der restlichen Branche betrachten.

Und wie schaut es da aus?

Es ging der gesamten Branche schon einmal besser. Wir haben im Umfeld unserer Wettbewerber sehr gute Chancen. Wir werden von einer sehr engagierten Geschäftsführung unterstützt, die uns juristische Rückendeckung finanziert und Kontroversen verteidigt. Wir sind angriffslustig, rebellisch, anti-autoritär und können uns das leisten.

Damit das so bleibt, muss Geld verdient werden. Diversifikation durch Agenturen und Produktionsfirmen sind schön und gut. Ich frage mich, wie sich der digitale Journalismus aus eigener Kraft finanzieren kann. Große Hoffnungen werden an Paid Content geknüpft. Siehst du das in eurem Markt oder lohnt sich so ein loyales Kundengeschäft im jungen, digitalen Journalismus gar nicht?

Wieso sollte sich das nicht lohnen?

Viele junge Nutzer, gerade in sozialen Netzwerken, merken sich die Quellen ihrer Informationen nicht. Vice beansprucht für sich, sich regelmäßig zu erneuern, also die herauswachsenden Nutzer quasi gegen neue auszutauschen. Langfristige Bindung klingt anders. Lassen sich junge Nutzer überhaupt binden und dazu bewegen, für den Inhalt zu bezahlen?

Natürlich sind junge Menschen bereit zu bezahlen, wenn wir Mediennutzung mal etwas breiter betrachten. Sie geben beispielsweise viel Geld für Streamingdienste aus. Ich glaube, dass im Journalismus die passenden Bezahlmöglichkeiten noch nicht gefunden sind. Wir könnten jetzt eine Paywall bauen, an der dann viele Menschen abprallen, weil sie noch zu hohe Hürden hat. 

Bezahlprozesse sind über die vergangenen Jahre deutlich einfacher geworden. Dass man seine Bezahldaten hinterlegen muss, bleibt erst einmal unvermeidlich. Eine Binse lautet ja: Wenn der Inhalt gut ist, finden sich auch Menschen, die dafür bezahlen. 

Fakt ist für uns, dass viele Nutzer von externen Plattformen kommen und entsprechend schnell an den Content wollen. Wenn sie das nicht können, sind sie wieder weg. Bei Vice kommt aber auch die Überzeugung einer größtmöglichen Verbreitung hinzu. Die gab es schon in den 90er Jahren als Vice als gedrucktes Gratis-Magazin gestartet ist. 

Wir haben ja gerade darüber gesprochen, dass man sich immer wieder neu erfinden muss… Man kann Paid Content als Monetarisierungsmöglichkeit natürlich ausschließen. Besonders, wenn man unterstellt, dass Markenbindung über soziale Netzwerke noch einmal schwieriger ist, die Nutzerloyalität mag geringer sein. 

Ich schließe Paid Content, anders als vor eineinhalb Jahren als ich anfing, nicht kategorisch aus. Wir müssen hier vielleicht noch etwas experimentieren. Bei uns wird ein Großteil oder der gesamte Content aber niemals hinter einer Paywall stehen. Vielleicht lassen sich zusätzliche Funktionen oder Elemente finden, die man mit Paid Content verbinden kann. Oder eben gleich ganze Plattformen. In den USA beispielsweise ist Munchies von Vice gerade mit einem eigenen Kanal bei Only Fans gestartet, als erster Publisher überhaupt. Dort gibt es Monetarisierungsmöglichkeiten direkt über die Plattform. Vielleicht muss man sich auch im Bereich des Merchandisings noch einmal mehr austoben. Wie gesagt: Der Erfolg liegt in der Diversifikation. 

Nicht wirklich divers scheint manchmal das inhaltliche Angebot von Vice. Wer die Seite besucht, kann das Gefühl bekommen, junge Menschen interessieren sich nur für Pornos, Prostitution und Drogen. Sind junge Menschen so einfach?

Pornografie ist eines der Themen, die angesichts der Bedeutung für viele Menschen in ihrem Leben in den Medien unterrepräsentiert sind. In den etablierten und großen Publikumsmedien taucht Pornografie vielleicht dann mal auf, wenn etwas nachrichtlich passiert ist. Wir begleiten es kontinuierlich und auch mit einem anderen Blick als viele andere. 

Mit einem begeisterten?

Mit einem aufgeschlossenen und zugleich kritischen Blick. So schauen wir auch auf das Digitale und verbinden es sogar. Ein Beispiel: Jeder spricht über Facebook und wie die Inhalte dort moderiert oder nicht moderiert werden. Wir haben neulich eine Recherche über die Moderations-Methoden von xHamster veröffentlicht. Das ist eine der größten Pornoplattformen überhaupt und wir haben uns ein Jahr mit den Missständen dort beschäftigt. Für uns gilt: Wir wollen nicht moralisieren und verdammen. Das gilt auch für Drogen. 

Was genau soll das bedeuten?

Das Bedürfnis nach Rausch wird von uns nicht gleich negativ konjugiert, sondern einfach mal akzeptiert. Man kann so einen Standpunkt als verherrlichend darstellen, wir haben aber einen kritischen Blick darauf und entsprechend einen Kollegen, Tim Geyer, der sich in dem Thema sehr gut auskennt. Wir wollen verstehen, wie und warum sich Drogen verbreiten. Das ist Aufklärung. Der Umgang mit Drogen ist übrigens höchst politisch. 

Mag sein und ich kann mir vorstellen, dass es auch sehr gut Reichweite bringt. Dennoch noch einmal die Frage, ob die Jugend nicht etwas vielschichtiger ist? 

Wir sind weder Volkspartei noch großes Publikumsmedium, so verstehen wir uns auch nicht. Wir sind ein Ausgleichsangebot. Ich würde keinem jungen Menschen empfehlen, sich ausschließlich bei Vice zu informieren. Genauso hoffe ich, dass ein Spiegel-Redakteur seinen Lesern nicht nur empfiehlt, den Spiegel zu lesen. 

Als es die Verticals – ich hatte sie vorhin angesprochen – noch gab, kam mir Vice vielseitiger vor. Hat die Einstellung zu einem engeren Fokus geführt?

Auch da sind wir anti-autoritär. Unsere Redakteurinnen und Redakteure entscheiden quasi selbst, worauf sie Bock haben. Wir sind eben kein Vollangebot und auch nicht in Ressorts aufgeteilt. Unsere Themen hängen sehr davon ab, was uns selbst gerade beschäftigt. Man kann sagen: Vice ist amorph. Das führt dazu, dass auch ich an manchen Tagen denke, die Welt besteht nur aus Drogen, Sex und Drogen. Mir ist es aber wichtig, dass wir Ideen und Spaß haben – und wir eben nicht ständig hinterfragen müssen, welche Themen uns fehlen. 


Wie schätzt du den Markt der Millennial-Medien ein und denkt über potentielle Geschäftsmodelle? Ist es eine gute Idee, Medienmarken über Merchandising oder andere Kanäle zu finanzieren? Deine Meinung ist gefragt – in der Medieninsider-Community unter diesem Artikel oder in den sozialen Netzwerken, beispielsweise bei Facebook oder LinkedIn.

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Marvin Schade
Marvin Schadehttps://medieninsider.com
Marvin ist Co-Gründer und Founding Editor von Medieninsider und hat sich damit einen kleinen Traum erfüllt. Vor der Gründung war er mehrere Jahre für den Branchendienst Meedia in Hamburg und Berlin tätig, arbeitete kurz beim Focus Magazin und zuletzt für Gabor Steingarts Morning Briefing.

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