Die Mär von Filterbubbles und Echokammern

Filterbubbles und Echokammern werden von Politikern und Journalisten gerne als Begründung verwendet, wenn sie in gewisse Gruppen nicht mehr vordringen können. Oft Schuld daran sind auch die sozialen Netzwerke und Technik-Plattformen. Das klingt alles gut und schlüssig. Es ist nur nicht richtig. Die Idee der Filterbubbles ist bislang nichts weiter als „eine schöne Theorie“, schreibt Alexandra Borchardt. 

Den Online-Kommunikationsplattformen wird mittlerweile die Verantwortung für so ziemlich alles zugeschrieben, was Bürger verstört, seien es der Populismus, die Verrohung, Verdummung oder Radikalisierung der Gesellschaft, der Verfall von Sitten und Moral oder der Terrorismus. 

Soziale Netzwerke haben angeblich die Wahl von Trump und den Brexit herbeigeführt (so mancher vermutet die Russen dahinter) und bescheren uns jene viel beschriebenen „Filterblasen“ und „Echokammern“, aus denen wir aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden. Renommierte Wissenschaftler argumentieren so, zum Beispiel der Harvard-Jurist Cass Sunstein, aber auch enttäuschte Intellektuelle aus dem Mitte- Links-Spektrum oder Politiker, die gerade eine Wahl verloren haben. 

Filterbubbles und Echokammern: Nur eine schöne Theorie

In der CDU waren im Mai 2019 nicht wenige der Meinung, das desaströse Abschneiden der Union bei der Europawahl sei alleine auf ein binnen weniger Tage mehr als 13 Millionen Mal geklicktes Video mit dem Titel Die Zerstörung der CDU zurückzuführen, in dem der YouTuber Rezo die etablierten Parteien – und nicht nur die CDU – vorgeführt hatte. Schon die Annahme, junge Wählerinnen und Wähler seien so leicht zu beeindrucken, spricht Bände.

Gerne wird dann von einer digitalen „Filterblase“ gesprochen. Der von dem Internetaktivisten Eli Pariser geprägte Begriff gehört heute selbst für den Bundespräsidenten zum Vokabular. Das Problem ist nur

Es handelt sich hier um eine schöne Theorie. Belastbare Belege gibt es für sie nicht. Das Gleiche gilt für die begrifflich oft strapazierten „Echokammern“. 

Im Internetdiskurs gehört beides zur Folklore, auch weil Journalisten die Begriffe permanent verwenden – aber das macht sie nicht richtiger. Jeff Jarvis, der an der City University of New York Journalismus unterrichtet, treibt dies zur Verzweiflung. „Der Zustand der Medien und Technologie-Berichterstattung stinkt zum Himmel“, schrieb er im Juli 2019 in einem Blog.

Der australische Kommunikationswissenschaftler Axel Bruns warnt gar vor  „moralischer Panik“. Die ewige Diskussion um Filterblasen und Echokammern lenke von den wahren Ursachen der politischen Polarisierung ab, argumentierte er in einem Artikel

„Der Aufstieg von hyper-parteiischen, populistischen und illiberalen ideologischen Agitatoren und Propagandisten an den Rändern des politischen Spektrums und die Ablehnung von demokratischen Prinzipien und Prozessen ist nicht in erster Linie ein Phänomen der Kommunikationstechnologien, die sie nutzen: Es ist im Kern ein gesellschaftliches Problem.“

Diese Fakten werden im Twitter-Zeitalter ignoriert

Ein paar Fakten zur digitalen Kommunikation werden im Twitter-Zeitalter gerne ignoriert. Zunächst einmal hat es Filterblasen, wenn man sie so nennen will, schon immer gegeben. Die abonnierte Tageszeitung oder der voreingestellte Radiosender sind und waren die effektivsten Filterblasen schlechthin. Man las die Beiträge seiner Lieblingsautoren und fühlte sich rundum gut informiert. Wozu noch woanders suchen? Tatsache ist, dass die Menschen sich heute aus wesentlich mehr verschiedenen Quellen informieren als früher – Untersuchungen wie der Digital News Report 2017 belegen das. 

Und genau diese Veränderung macht den etablierten Medien zu schaffen: Gerade die gebildeten jungen Bürgerinnen und Bürger geben sich nicht mehr mit einem Nachrichtenkanal zufrieden, wenn sie sich eine Meinung bilden wollen. Sie bekräftigen die Loyalität zu einer Medienmarke deshalb auch nicht so schnell mit einem Abo. 

Vielfalt und Vergleich sind verfügbar und werden genutzt. 

Tatsache ist auch, dass soziale Netzwerke besonders krude, drastische, plakative und auf andere Weise „laute“ O-Töne oder Bilder wie Lautsprecher oder Vergrößerungsgläser verstärken. Dahinter steht das weitgehend von Anzeigen und deshalb Reichweite getriebene Geschäftsmodell der Plattformen. Algorithmen sortieren Inhalte zusätzlich so, dass sie den Interessen des Empfängers entsprechen. Es ist deshalb wesentlich einfacher als früher, auch über große räumliche Distanzen hinweg Gleichgesinnte und Bestätigung für das eigene Weltbild zu finden. Das verzerrt die Wahrnehmung. Medienkonsum hat das zwar schon immer getan: Wer zum Beispiel früher nur das Boulevardblatt las, glaubte sich womöglich in einer Welt, in der Kriminelle das Sagen haben. Was Menschen über ihr Umfeld denken, hängt stark von ihren Informationsquellen ab, nur können die heute sehr unterschiedlich sein.

Medien haben in sozialen Netzwerken noch immer großen Einfluss

Allerdings unterschätzen viele, die von neuen Kommunikationsformen verunsichert sind, welchen Einfluss die traditionellen Medien noch immer haben. Die Forschung hat ein ums andere Mal ergeben: In den sozialen Netzwerken beherrschen sie nach wie vor die Debatte (s. hier oder hier). Auch wenn der US-Präsident häufig auf Twitter herumkrakeelt, erreicht er dort bei Weitem nicht alle Amerikaner, ja nicht einmal alle seine Anhänger. Tatsächlich ist die Reichweite gerade von Twitter deutlich geringer als zum Beispiel die von Facebook. 

Populisten beziehen ihre Neuigkeiten zudem überproportional durch das Fernsehen und nicht etwa über soziale Netzwerke, in den USA zum Beispiel über den Sender Fox News, in Deutschland über Privatsender wie RTL. Das Bildungsbürgertum hingegen ist in den sozialen Netzwerken sehr präsent, das gilt auf Twitter vor allem für Politiker und Medienschaffende. Der unbeabsichtigte Effekt: Journalisten verschaffen manchem Tweet erst dadurch Reichweite, dass sie ihn zur Story hochjazzen. Polarisierung gab es zudem schon lange vor Erfindung der sozialen Medien. Sie wurde nur nicht so sichtbar. Die USA zum Beispiel sind schon immer eine gespaltene Gesellschaft gewesen: Nobelpreis-verdächtige Intellektualität und Oscar-würdige Kreativität auf der einen und kruder Rassismus auf der anderen Seite existieren dort nebeneinander, manchmal an ein und demselben Ort. 

Man sollte nie vergessen: Es sind Menschen, die polarisieren, nicht deren Kommunikationswerkzeuge. Auch der Brexit in Großbritannien war kein Social Media-Phänomen. Eine Clique von Politikern hatte ihn ersonnen und Briten, die sich abgehängt fühlten, als Chance für mehr Selbstbestimmung verkauft. Die EU steht dabei symbolisch ausgerechnet für jene Fremdbestimmung, wie sie Bewohner großer Teile des Landes empfinden, weil eine Londoner Elite fernab von ihrer Lebenswirklichkeit über ihre Geschicke verhandelt. Die Abstimmung über leave oder remain wurde jedenfalls ganz klar von den traditionellen Medien beeinflusst. Wie eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung von neun überregionalen britischen Tageszeitungen vor dem Referendum ergab, sprachen sich von den fast 2400 Artikeln direkt oder indirekt 41 Prozent für einen Brexit aus. Demgegenüber waren nur 27 Prozent erkennbar dafür, in der EU zu bleiben.

Die leisen Stimmen sind immer noch da – und zwar in der Mehrheit

All das heißt allerdings im Umkehrschluss nicht, dass die neuen Kommunikationswege keinen Einfluss haben und man sie deshalb getrost ignorieren kann. Soziale Netzwerke werden für die Stimmungsmache genutzt. Es gab und gibt weltweit immer wieder Versuche, Wahlen gezielt durch Kampagnen in den sozialen Netzwerken zu beeinflussen. Diese Art Kriegsführung über scheinbar harmlose Kommunikation nimmt in der Sicherheitspolitik vieler Staaten strategisch einen immer größeren Raum ein. Gut möglich, dass sie tatsächlich auch schon Bürgerinnen und Bürger auf dem Weg in die Wahlkabine beeinflusst hat

Aber so wie keine Partei ihr schlechtes Wahlergebnis auf einen YouTuber schieben sollte, wäre es zu simpel, ausländische Mächte oder Internetkonzerne für jede Meinungsäußerung oder Wahlentscheidung von Bürgern verantwortlich zu machen, die einem gerade nicht in den Kram passt.

Tatsächlich gilt immer noch: Die weitaus meisten Menschen halten sich mehr oder weniger grummelnd an Regeln, lassen ihre Mitmenschen in Frieden leben und ihrer Wege gehen und ringen täglich darum, ihrer Verantwortung als Mitbürger, Mutter, Vater, Mitarbeiter, Chefin, Freund oder Nachbarin gerecht zu werden. Die digitale Kommunikation macht die Lauten unter ihnen lauter.

Aber die anderen, die Leiseren, sind trotzdem noch da. Und meistens sind sie in der Mehrheit.


Buchcover; Dudenverlag

Bei der Kolumne handelt es sich um eine gekürzte und exklusiv für Medieninsider angepasste Fassung des Kapitels In welche Fallen Journalisten immer wieder tappen aus dem Buch Mehr Wahrheit wagen – Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht von Alexandra Borchardt. Erschienen im März 2020 im Dudenverlag.


Lesetipp

Kennst du schon unseren Kolumnisten Dietmar Schantin? Auch er veröffentlicht regelmäßig bei Medieninsider.

Alle Kolumnen bei Medieninsider

Wenn dir der Artikel gefällt, dann teile ihn in sozialen Netzwerken, aber nicht als PDF innerhalb deiner Organisation. Dafür ist eine Lizenz notwendig.

Alexandra Borchardt
Alexandra Borchardthttps://alexandraborchardt.com/
Dr. Alexandra Borchardt ist Journalistin mit mehr als 25 Jahren Berufspraxis, 15 davon in Führungspositionen (Süddeutsche Zeitung, Plan W). Sie ist Buchautorin, Beraterin und Medienforscherin mit besonderem Blick für Leadership und Digitalisierung.

DEINE MEINUNG IST GEFRAGT

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Hier Namen eintragen