„Ja oder nein?“: Chats lassen an Sex-on-Demand-Vorwürfen in Causa Reichelt zweifeln

„Noch wach?“ So harmlos und unverbindlich die Frage klingt, ihre großen, gelben Letter, in denen sie geschrieben steht, verleihen ihr eine gewisse Aufdringlichkeit. Noch wach? So lautet der Titel des neuen Romans von Benjamin von Stuckrad-Barre, den er in dieser Woche vorgelegt hat. Die Aufmachung in Signalfarben kommt nicht von ungefähr. Auch wenn Stuckrad-Barre es demonstrativ bestreitet: In seinem Roman geht es unverkennbar auch um den Axel-Springer-Verlag und den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. 

„Noch wach?“, lautet eine der Fragen, die Reichelt noch zu später Stunde Mitarbeiterinnen geschrieben haben soll, wenn er sich noch treffen wollte. So steht es in zahlreichen Medienberichten, die sich mit dem Compliance-Verfahren und den Vorwürfen des Machtmissbrauchs befassten. Die Frage ist zum Symbol geworden für einen Chef, der seine Position gegenüber jungen Mitarbeiterinnen ausgenutzt haben soll. Reichelt bestreitet das bis heute. Nun gibt es Material, das zentrale Teile der Vorwürfe einer der Hauptbelastungszeuginnen in Frage stellt.  

Dabei geht es um Darstellungen einer ehemaligen Mitarbeiterin, die eine Affäre mit Reichelt hatte, als er noch Bild-Chef war und sie Berufseinsteigerin. Sie war eine der Frauen, die ausführlich mit Stuckrad-Barre über ihre Erfahrungen bei Springer sprach und Zeugnis über das mutmaßliche Verhalten von Reichelt ablegte. Sie untermauerte den Verdacht des Machtmissbrauchs. Das geschah nicht nur im Compliance-Verfahren, sondern auch vor Gericht. 

Vergangenes Jahr verklagte sie in den USA den Axel-Springer-Konzern auf Schadensersatz. Medieninsider berichtete ausführlich darüber. Auf insgesamt 132 Seiten (inkl. Anhang) warfen sie und ihr Anwalt dem Unternehmen vor, frühzeitige Anzeichen und Hinweise auf mutmaßlichen Machtmissbrauch ignoriert und damit ein System gefördert zu haben. Sie sei in „verachtenswerter, unterdrückerischer und böswilliger Weise“ geschädigt worden. Von „Unterdrückung, Betrug und Arglist“ war die Rede. Ihr Anwalt forderte vom Gericht, „ein Exempel zu statuieren“. 

Dieses Exempel blieb aus, denn zum Urteil des kalifornischen Gerichts kam es nie. Die Ex-Mitarbeiterin zog ihre Klage zurück, nachdem sie sich mit Axel Springer außergerichtlich geeinigt hatte. Danach wurde es still – bis jetzt. 

Medieninsider konnte sich einen Eindruck von Chatnachrichten zwischen dem Chefredakteur und seiner Angestellten verschaffen. Sie wurden schon bei der Zeit erwähnt, gehen in der Berichterstattung über Mathias Döpfners umstrittene Aussagen aber unter. Die Nachrichten stammen aus dem Jahr 2018, der wohl intensivsten Zeit der Affäre. Sie zeichnen ein Bild, das sich auch in der Klageschrift wiederfindet: das eines toxisch aufgeladenen Verhältnisses zwischen einem Chef und einer seiner Mitarbeiterinnen ganz am Anfang ihrer Karriere. Reichelt bestreitet den Vorwurf, seine Position ausgenutzt zu haben: Das Machtgefälle zwischen dem Chefredakteur und der Berufseinsteigerin lässt sich allerdings ebensowenig wegdiskutieren wie auch zumindest ein Fehlverhalten. Reichelt hat eine Affäre begonnen, die er in seiner Funktion nicht hätte führen sollen. Für viele fängt das Ausnutzen einer Machtposition an dieser Stelle an. 

Medieninsider berichtet über die Details dieser Nachrichten, weil sie der Causa Reichelt eine weitere Perspektive hinzufügen. Sie reichern Reichelts Dementi mit etwas Substanziellen an. Es ist die andere Seite dessen, was detailreich in ihrer Klage geschildert wurde. Mehr noch: Die Nachrichten werfen die Frage auf, ob besonders ein zentraler Vorwurf der Wahrheit entspricht und damit in seiner Schwere aufrechterhalten bleiben kann. Daran knüpft die Frage an, weshalb der Axel-Springer-Konzern die US-Klage zügig durch einen Vergleich abräumte. 

Medieninsider hat versucht, die ehemalige Mitarbeiterin von Bild mit den neuen Erkenntnissen und Widersprüchlichkeiten zu ihrer Aussage zu konfrontieren. Medienanwalt Christian Schertz, der sie in der Vergangenheit vertrat, teilte mit, nicht für Anfragen mandatiert zu sein. Anfragen an ihren US-Anwalt sowie an sie selbst blieben unbeantwortet. 

Was ist dran am Vorwurf „Sex on demand“?

Teile des Materials stehen im Kontext zu einem der in der Klage formulierten Kernvorwürfe gegenüber Reichelt. Die Mitarbeiterin hatte in ihrer Klage beschrieben, wie sie nach einer anfänglichen Liaison mit Reichelt in dessen Abhängigkeit gerutscht sei und später keinen Ausweg mehr gefunden hätte. Dabei entstand der Eindruck, die junge Journalistin hätte sich ihrem Chef nicht entziehen können und jederzeit zur Verfügung stehen müssen. 

Als zentrales Beispiel für diese Entwicklung führte sie ein Treffen mit Reichelt in Wien im Februar 2018 an. Beide wären für den Opernball beruflich, aber getrennt voneinander in der Stadt gewesen. Schließlich hätte Reichelt am späten Abend per Textnachricht mitgeteilt, sie in seinem Hotel treffen zu wollen. Die Reporterin sagt, sie habe versucht, der Situation aus dem Weg zu gehen. Sie habe geantwortet, bereits in ihrem Hotel im Bett zu sein. Erst Stunden später, mitten in der Nacht, hätte sich Reichelt schließlich wieder gemeldet und sie „angewiesen“, zu ihm zu kommen. Sie hätte schließlich aus Angst vor Konsequenzen getan, wie ihr „befohlen“ worden sei. 

„Yes or no?“

Die Chats stellen das anders dar. Demnach war es zwar Reichelt, der sich an dem Tag bei seiner Reporterin meldete, allerdings bereits zur Mittagszeit. Es war die Mitarbeiterin, die kurz darauf nach einem Treffen fragte und sich am frühen Abend erkundigte, ob Reichelt auch wirklich später Zeit habe. Zwischen 23 Uhr und Mitternacht schrieb sie nicht, dass sie bereits im Bett liege. Vielmehr schien sie noch unterwegs und erklärte, dass ihre Begleiterinnen nach Hause wollten. Erst dann fragte Reichelt nach ihrem Hotel und beide begannen, sich zu verabreden. 

  • du sparst zwei Monatsbeiträge
  • sofortiger Zugriff auf alle unsere exklusiven Artikel und den wöchentlichen Lese-Letter
  • Teilnahme an allen digitalen Veranstaltungen sowie Zugriff auf Tickets für Vor-Ort-Netzwerk-Events
  • Rabatt auf weitere Medieninsider-Produkte
  • verlängert sich automatisch, monatlich kündbar
  • sofortiger Zugriff auf alle unsere exklusiven Artikel und den wöchentlichen Lese-Letter
  • Teilnahme an allen digitalen Veranstaltungen sowie Zugriff auf Tickets für Vor-Ort-Netzwerk-Events
  • Rabatt auf weitere Medieninsider-Produkte
  • Lade dein Konto mit 2 Credits zu 19 € auf, mit denen du neben diesem noch
    einen weiteren Artikel lesen kannst
  • keine automatische Verlängerung, keine Mitgliedschaft, keine Teilnahme an Medieninsider-Events
  • Erwirb für Mitarbeiter deines Unternehmens Lizenzen für eine rechtssichere Nutzung
  • Zentrale Verwaltung der Nutzer durch einen Admin
  • Eine Rechnung pro Jahr für alle Lizenzen zusammen

Diese Angebote berechtigen nicht zur Nutzung der Artikel in Pressespiegeln (o. Ä.).
Klicke hier zum Erwerb von passenden Nutzungslizenzen.

Wenn dir der Artikel gefällt, dann teile ihn in sozialen Netzwerken, aber nicht als PDF innerhalb deiner Organisation. Dafür ist eine Lizenz notwendig.

Marvin Schade
Marvin Schadehttps://medieninsider.com
Marvin ist Co-Gründer und Founding Editor von Medieninsider und hat sich damit einen kleinen Traum erfüllt. Vor der Gründung war er mehrere Jahre für den Branchendienst Meedia in Hamburg und Berlin tätig, arbeitete kurz beim Focus Magazin und zuletzt für Gabor Steingarts Morning Briefing.

DEINE MEINUNG IST GEFRAGT

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Hier Namen eintragen