Die Jury des Stern-Preises zeichnet die Süddeutsche Zeitung in der Kategorie „Geschichte des Jahres“ aus – für die Recherchen zur „Flugblatt-Affäre“ rund um Hubert Aiwanger. Wer will sich da noch über Entfremdung zwischen Journalismus und seinem Publikum wundern? Ein Kommentar.
Da gaben sich selbst die Ausgezeichneten überrascht, als sie am Mittwochabend auf die Bühne gerufen wurden, um einen der meistbeachteten Journalistenpreise des Landes entgegenzunehmen. Schon die Nominierung ihrer Recherchen, die im vergangenen Jahr die so genannte Flugblatt-Affäre rund um Bayerns Vize-Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger (Freie Wähler) ausgelöst hatte, sorgte für Irritationen. Nun ist die Arbeit von Katja Auer, Sebastian Beck, Andreas Glas, Johann Osel und Klaus Ott die „Geschichte des Jahres“ und man fragt sich:
Wer soll das verstehen?
Zur Erinnerung: Ende August, und damit etwa sechs Wochen vor der Landtagswahl in Bayern, berichtete die Süddeutsche Zeitung über ein antisemitisches Flugblatt, das Hubert Aiwanger zu Schulzeiten in den achtziger Jahren verfasst haben soll. Die SZ hatte das Flugblatt zugespielt bekommen und ließ es von einem Gutachter überprüfen. Der kam zu dem Ergebnis: Das Flugblatt wurde auf derselben Schreibmaschine wie Aiwangers Facharbeit getippt. In beiden Arbeiten hat der Buchstabe W eine „auffällige Unterbrechung im linken Bereich”. Nicht klären konnte so ein Gutachten allerdings die für diese Recherche wichtigste Frage: War es wirklich Hubert Aiwanger, der das Flugblatt an dieser Schreibmaschine getippt hat?
Trotzdem veröffentlichte die SZ ihre Verdachtsberichterstattung – nicht nur zu einem kritischen Zeitpunkt, sondern auch auf ihrer viel beachteten Seite 3. Umstritten war dies auch wegen der Intonation. So schrieb die SZ über ihre eigene Recherche von einer „Wucht“, mit der Aiwangers „Welle nun brechen könnte“. Kritiker bemängelten, dass der Artikel seine Wirkung bereits selbst vorweggenommen habe, auch wurde der Artikel als tendenziös und vorverurteilend diskutiert. Letzteres, weil nicht abschließend belegt werden konnte, dass Aiwanger tatsächlich Verfasser des Schreibens war – was er anschließend dadurch unglaubwürdig machen wollte, indem er seinen Bruder als Urheber präsentierte.
Entscheidung auch in der Jury umstritten
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Ich. Ich kann das verstehen, obwohl ich wegen der in ihrem Kommentar zurecht beklagten Intransparenz bezüglich der „Urteilsbegründung“ enttäuscht bin. Meine Täuschung lag aber auch im Verborgenen, also Unentschieden in diesem Punkt. Die Geschichte zu Hubert Aiwangers jugendlichem Verhalten hat in meinen Augen vor allem drei sehr spannende Auswirkungen gehabt. Erstens wurde ein untragbar schlampiger Umgang eines widersprüchlichen Populisten mit Fakten, Fairness und Sprachkultur offenkundig. Zweitens wurde im Diskurs genau dieser Offenkundigkeit und in der irrealen Solidarisierung vieler Wähler, die wohl nicht allesamt Bierzeltbesucher gewesen sein dürften, eine grassierende Inkompetenz der „normalen Leute der schweigenden Mehrheit“ für Fragen, was Kabarett und Politik noch unterscheidet, deutlich. Und drittens weist die Vergabe des Preises auf den Unterschied zwischen einer Geschichte und ihrer Präsentation hin; ich verstehe, dass der Preis uns mitteilt: obwohl der Artikel deutliche Mängel aufweist, wurde mit der Geschichte ans sich ein herausragendes Stück investigativer Arbeit geleistet und dem Volkssouverän sowie der lauernden Konkurrenz trotz verbleibender Unsicherheit zur Kenntnis gebracht. Der wesentliche Punkt für die Wahl der Jury scheint mir, darauf hinzuweisen, dass nicht der Artikel selbst (die Kür), nicht sein unantastbares Erscheinungsbild und auch nicht seine Unangreifbarkeit guten Journalismus ausmachen, sondern all der Hintergrund (Pflicht), den der Leser in aller Regel nicht sieht. Zum Beispiel die Recherche, aber hier besonders auch die aufreibenden Diskussionen, ob man genügend Material habe; ob man nicht noch mehr Gewissheit bekommen könne; ob man einen Shitstorm aushalten werde; … Ich verstehe, dass die Jury mit dieser Wahl ein Zeichen setzt, auch Risiken einzugehen. So, wie ein Bildhauer sich entscheiden kann, einige Bearbeitungsspuren an seiner Skulptur nicht vollständig weg zu polieren, sondern sichtbar bleiben zu lassen. Die Illusion, die Journalisten oder gar „das Pressemedium“ säßen in einem Elfenbeinturm, der entweder nur „Lügen“ hervorbringe oder unwiderlegbare „Wahrheit“, wird durch die Jugendgeschichte des Hubert Aiwangers gerade in der ambivalenten Form, wie sie von der SZ im leichtfertigen Abschluss (Seite 3) praktiziert worden ist, einer Dekonstruktion zugänglich. Es gibt den Protagonisten Hubert Aiwanger, das Wahlvolk, die Presse und einen Diskussionsraum. Ich erinnere mich an keinen journalistischen Beitrag des Jahres 2023, der in ähnlich gnadenloser Weise all die Prozesse und Querverbindungen nichtanalytisch sondern stattdessen dekonstruierend aufgebrochen hätte (wenn vielleicht wohl auch eher versehentlich) wie der zu Recht prämierte. Wenn ich verstehen will, dass der Preis mit Sinn vergeben wurde, dann kann ich die Entscheidung durchaus nachvollziehen und gut finden. Journalismus ist eine Säule der Demokratie, die aus Widerspruch und Diskussion mit oft unsicherer Datenlage besteht. Welche journalistische Arbeit hätte das besser gezeigt?
Lieben Gruß,
max gut