Als Journalist erlebt man viele Tage, von denen man anfangs nicht weiß, wie sie enden werden. Für Johannes Boie war auch der 18. Oktober so ein Tag – nur, dass er weitreichende Folgen haben sollte.
Begann er diesen besagten Montag noch als Chefredakteur der Welt am Sonntag, beendete er den Tag mit einem neuen Job. Innerhalb weniger Stunden wurde Boie, vor seiner zweijährigen Karriere als WamS-Chef Vorstandsassistent von Mathias Döpfner und Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, zum neuen Mann an der Spitze von Bild berufen. Zuvor hatte man Julian Reichelt mitgeteilt, an ihm als Chefredakteur von Bild nicht weiter festzuhalten.
Am Mittwoch dieser Woche leitet Johannes Boie seit nun 100 Tagen die Geschicke des wichtigsten Springer-Titels in Deutschland und zählt damit zu den bedeutendsten Medienmachern des Landes. 100 Tage unter Johannes Boie bedeutet auch: 100 Tage Bild ohne Julian Reichelt.
Was hat sich seither getan und wohin steuert Deutschlands größtes Boulevardmedium? Zeit für eine erste Bilanz. Sie zeigt: Boie führt Bild spürbar anders als Vorgänger Julian Reichelt, auch die Anforderungen an die Redaktion ändern sich. Anspruch und Wirklichkeit stehen aber noch nicht im Einklang miteinander.
Kein leichter Start
Bei seinem Amtsantritt hatte Johannes Boie angekündigt, keine große Kurskorrektur für Bild vorzunehmen. Trotzdem dreht der Neue an der Spitze an den Stellschrauben. Er muss. Denn unter Vorgänger Julian Reichelt hat sich nicht nur eine Unternehmenskultur manifestiert, die man auch bei Axel Springer für nicht mehr zeitgemäß erachtet. Auch der redaktionelle Kurs Reichelts hat zuletzt an Rückhalt verloren.
Die Gegebenheiten hätten zum Start von Johannes Boie schlechter kaum sein können. Da war nicht nur die anhaltende Pandemie mit all ihren Distanzregeln. Boie fand eine Redaktion vor, die:
► sich zwischen Erlösung und Schockstarre befand, mitgenommen und erschüttert vom gerade erst abgeschlossenen Compliance-Verfahren des bisherigen Chefredakteurs, das zudem auch noch öffentlich begleitet wurde.
► das Thema moderne Arbeitskultur eher aus der Theorie kannte als aus der Praxis, und die mehr auf die Bedürfnisse eines Einzelnen zugeschnitten war als auf die der Mehrheit.
► mitten im Bundestagswahlkampf einen neuen TV-Sender startete, der nicht nur bisherige Arbeitsabläufe über den Haufen warf, sondern für alle Beteiligten zusätzliche Belastungen bedeutete.
► in den vergangenen Monaten wegen ihrer Berichterstattung noch mehr Kritik einstecken musste als üblich – speziell für die über die Corona-Pandemie.
(K)ein neues Blatt
Auch Boies Gegebenheiten hätten besser sein können. Er übernahm nicht nur von einem Tag auf den anderen, sondern ohne Erfahrung im eigenwilligen Boulevardgeschäft – dafür mit einem ambitionierten Plan:
Bild soll Marke des Massengeschmacks werden – ein Volksprodukt.
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