Bild soll sich unter Johannes Boie vom Schwarz-Weiß-Denken lösen und für Debatten öffnen. Rückfälle wie der Lockdown-Pranger vom Wochenende überschatten bisherige Fortschritte – und werden auch intern scharf kritisiert.
Johannes Boie hatte sich für Bild eigentlich vorgenommen, wieder mehr Schlagzeilen zu produzieren, als selbst für welche zu sorgen. Sieben Wochen nach Antritt des neuen Chefredakteurs steht Deutschlands größte Tageszeitung aber wieder prominent in der Kritik. Der Grund: Am Wochenende stellte das Blatt drei Naturwissenschaftler an den medialen Pranger.
Unter der Überschrift „Die Lockdown-Macher“ schrieb Bild: „Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest.“ Und als wäre das nicht genug, geschah dies auch noch einen Tag, nach dem Neonazis mit Fackeln vor dem Haus der sächsischen Sozialministerin aufmarschierten.
Für die Aktion hagelte es nicht nur kritische Kommentare von externen Beobachtern und Journalisten, auch die Betroffenen wehrten sich. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, der Zusammenschluss der bedeutendsten Wissenschaftsorganisationen in Deutschland, verurteilte die Aktion von Bild als „diffamierend“ und warf dem Medium vor, zu einem Meinungsklima beizutragen, das zu psychischer und physischer Gewalt führe. Die Humboldt-Universität Berlin bezeichnet die Berichterstattung zudem als „gefährlich“ und „verantwortungslos“ und hat die Sache an den Presserat weitergeleitet.
Da war sie wieder: die hässliche Fratze des Boulevards. Bild hat sein Image als Scharfmacher und Brandstifter, der Stimmungen nicht abbildet, sondern befeuert, mal wieder bestätigt. Der Clinch mit der Wissenschaft, er ruft sofort Erinnerungen an die Kampagne gegen den Virologen Christian Drosten hervor – eine Krise, in die sich im vergangenen Jahr sogar CEO Mathias Döpfner einschalten und den damaligen Bild-Chef Julian Reichelt zügeln musste.
Jetzt ist Boie als neuer Chefredakteur am Zug. Der Pranger von Samstag ist so etwas wie ein publizistischer Rückfall, die übergeigte Stimmungsmache ein Trip, von dem man eigentlich herunterkommen wollte. Bild kämpft. Am meisten mit sich selbst.
Lockdown-Pranger bei Bild: Kritik auch aus den eigenen Reihen
Der Corona-Kurs von Bild befremdet nämlich nicht nur externe Beobachter, sondern auch Mitglieder aus den eigenen Reihen. Draußen wie drinnen fragt man sich: Wo steht das Blatt? Und in welche Richtung steuert es der neue Chefredakteur?
Der spricht davon, „dass uns 80 Millionen Deutsche mögen“ sollen und sieht in Bild eine „Medienmarke der Mehrheit“. Eine unmögliche Herausforderung, denn nicht einmal intern fühlen sich alle repräsentiert.
Auszüge aus dem internen Slack-Kanal für Lob und Kritik mit seinen etwa 450 Mitgliedern:
► Dort stellte ein Mitglied der Chefredaktion in Bezug auf den Corona-Pranger am Samstag klar: „Wir sprechen von ‚uns‘ auf dem Teaser. Also Frust lösen diese die Personen bei MIR zumindest nicht aus, sondern die vielen Menschen, die sich nicht haben impfen lassen.“
Diese Angebote berechtigen nicht zur Nutzung der Artikel in
Pressespiegeln (o. Ä.).
Klicke hier zum Erwerb von passenden Nutzungslizenzen.