Warum man bei den Evros-Berichten des Spiegel nicht von „Relotius 2.0“ sprechen kann

Ausgabe #44/2022

Hallo Medieninsider!

Schön, dass du dabei bist! Was sich in dieser Woche im Lese-Letter unter anderem erwartet:

► Wieso man die Evros-Berichte nicht mit der Causa Relotius vergleichen sollte – der Spiegel trotzdem ein veritables Problem hat

► Welche Relevanz digitale Leitmedien den Iran-Protesten eingeräumt haben

► Was nach dem Newsletter-Boom bleibt

► Womit Publisher im November bei TikTok erfolgreich waren

 Worauf es bei Innovationen ankommt

► Wie unser berauschendes Angebot für dich aussieht, wenn du noch keine Mitgliedschaft bei Medieninsider hast

In der vergangenen Woche hast du an dieser Stelle nicht nur exklusiv erfahren, dass der Spiegel vier seiner Evros-Berichte offline genommen hat, sondern auch die Hintergründe zu diesem bemerkenswerten Vorgang erhalten. 

Wir haben berichtet, dass es nicht einfach Ungereimtheiten in dem Artikel gab, sondern ernsthafte Zweifel am Wahrheitsgehalt der Geschichte einer Gruppe von Flüchtlingen. Zweifel daran, dass bei der Flucht tatsächlich ein fünfjähriges Mädchen gestorben ist. Zweifel daran, dass es dieses Mädchen namens Maria tatsächlich gab. 

Wir haben berichtet, dass die Zweifel beim Spiegel erst aufgekommen sind, nachdem sich der griechische Integrationsminister per Brief bei Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann beschwert hatte. In diesem Brief versicherte er: Es gibt keine Belege für die Existenz des Mädchens. Seitdem geht der Spiegel Fragen nach, die vor der Veröffentlichung hätten geklärt werden müssen. 

Allein das zeigt: Deutschlands wichtigstem Nachrichtenmagazin ist ein schwerer Fehler unterlaufen. Die Kontrollmechanismen des Spiegel, der sich eine große und teure Dokumentation für Faktenchecks leistet, haben versagt. In den Artikeln hätten zumindest die Zweifel an der Flüchtlingsstory prominent erwähnt werden müssen – vielleicht hätte der Beitrag gar nicht erscheinen dürfen. Dass auch andere Medien falsch gehandelt haben (und ihre Storys unverändert online lassen), darf den Spiegelnicht interessieren. 

Nach unserer Berichterstattung machte der Fall schnell die Runde, in den Tagen danach griffen zahlreiche Medien den Vorgang auf (ebenso bemerkenswert: manche schrieben unsere Story teilweise ungeprüft ab, teilweise offenbar aus Sekundärquellen). Auch in Griechenland, wo zwischenzeitlich schon mal über die Zweifel an der Flüchtlingsstory berichtet worden war, kam der Vorfall wieder auf die Agenda. Dabei erreichte mich die Anfrage eines griechischen Journalisten, der von mir wissen wollte:

Kann man dem Spiegel noch vertrauen?

Die Frage kommt auf, weil die Causa Relotius natürlich noch nicht vergessen ist. Weil viele – vor allem am Rande der Verschwörung – jetzt von „Relotius 2.0“ sprechen.

„Evros 38“, wie auch der Spiegel die Story vermarktete, mag an Relotius erinnern: 

► Relotius’ Storys spielten vor allem im Ausland, wo die Sprachbarrieren Hürden der Recherche und Verständigung sind. 

► Relotius schrieb Storys, für die es kaum Zeugen gab, oft war er der einzige (Spiegel-)Reporter. Auch für das Schicksal der Flüchtlinge am Evros gab es kaum extern Zeugen, nicht einmal die Journalisten selbst waren auf der Insel dabei. 

Und doch sollte man die Relotius-Keule nur vorsichtig schwingen, am besten sogar gar nicht erst herausholen:

►Relotius hat Storys selbst (!) und frei erfunden. Womöglich einfach nur aus Geltungsbedürfnis. Bei den Evros-Berichten wird jetzt geprüft, ob Quellen gelogen und NGOs manipuliert haben. Der Spiegel-Journalist Giorgos Christides war womöglich fahrlässig unterwegs, aber – soweit bislang klar – nicht erfinderisch.

►Bei Relotius ging es um etwa 60 Storys und Jahre der Täuschung, um einen professionellen Fälscher. Aktuell geht es um einen Vorfall, aus dem einige Artikel entstanden sind. Christides war aktivistisch unterwegs, aber nicht betrügerisch. 

Das soll Versäumnisse an dieser Stelle nicht verharmlosen. Der Spiegel muss seinen Reporter jetzt höchst kritisch hinterfragen, Recherchewege, Fakten und – ja – auch Motive von Christides überprüfen. Möglicherweise sogar weitere, ältere Storys. 

Der Spiegel muss aber auch seine eigenen Prozesse auf den Prüfstand stellen. Wieso kamen zweifelnde Fragen nicht früher auf? Und falls sie aufkamen: Wieso führten sie zu keinem anderen Ergebnis? Es geht um viel. Denn irgendwann stellt man die Frage nach dem Vertrauen nicht mehr. Dann ist es einfach weg.

Solltest du unsere Berichterstattung verpasst haben, kannst du sie als Medieninsider hier nachlesen.


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Die Berichterstattung über das Flüchtlingskind am Evros erhitzte im Sommer viele Gemüter, das Thema erhielt international Aufmerksamkeit. Gleiches gilt seit zwei Monaten für die Entwicklungen im Iran. 

Dort finden die größten Proteste seit der Iran-Revolution im Jahr 1979 statt. Auslöser: Die gewaltsame Ermordung von Mahsa Amini durch die iranische Polizei. Alles nur, weil sie ihr Kopftuch nicht so getragen hat, wie die Sitte es verlangt. 

Auch wenn das Thema präsent war, haben wir uns die Frage gestellt: Wie präsent war es bei deutschen Digital-Publishern? 

Um das zu beantworten, probieren wir bei Medieninsider etwas Neues aus. Gemeinsam mit dem Daten-Start-up azernis analysieren wir, wie bestimmte Themen in den Medien stattgefunden haben. Dafür wertet azernis das Agenda-Setting von fast einem Dutzend deutscher Digital-Publisher aus.

Wie prominent die Iran-Proteste in den vergangenen Wochen bei BildWelt, FocusSpiegel, Stern und Co. waren und was das ProSieben-Duo Joko und Klaas damit zu tun hat, kannst du als Medieninsider hier lesen.

Agenda-Setting-Monitor: So finden die Iran-Proteste in den digitalen Leitmedien statt

Dr. Mathias Döpfner, Ulrike Handel, Vorstand Axel Springer SE. Fotos: Axel Springer; Montage: Medieninsider

Community: Dir fällt ein Thema ein, von dem du gerne wissen würdest, inwiefern es in den Medien stattgefunden hat – vielleicht auch im Vergleich zu anderen Themen? Dann schreib uns gerne eine E-Mail!


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Erkenntnisse aus der Forschung, Proteste, politische O-Töne: Jeden Tag gibt es neue Stimmen zu Klimathemen. Wie den Überblick behalten? Von der dpa-Redaktion erstellte Playlists bieten Orientierung. Einfach dpa ID anlegen und unseren Audio Hub testen.


Irgendwann erreicht jeder Trend sein Ende – und was dann? 

Das fragt sich auch Brian Morrissey mit Blick auf den großen Newsletter-Trend. Nahezu jedes Medium hat den Vertriebskanal in den vergangenen Jahren für sich wiederentdeckt, manche Neugründungen basieren auf Newsletter-Konzepten und selbst ganze Anbieter wie Substack haben ihre Geschäfte auf der guten alten E-Mail aufgebaut. Jetzt kommt die Konsolidierung, befeuert durch die Wirtschaftskrise wird sich der Markt bereinigen und nur überleben, was sich rentiert oder wirklich Perspektive hat. 

Brian wagt einen Rückblick auf die Newsletter-Renaissance. Er zeigt einige Initiativen auf, die sich nicht durchgesetzt haben und andere, von denen unklar ist, was aus ihnen wird. Er gibt aber auch einen Ausblick auf das, was nach dem Newsletter-Trend bleibt – und das ist einiges. Brians Kolumne kannst du als Medieninsider hier lesen.

Was nach dem Newsletter-Boom bleibt


Hast du dich jemals wirklich ernsthaft mit dem Temperaturregler an deiner Heizung befasst? Eins ist kalt, fünf ist viel zu warm – drei halt einfach in der Mitte. Ungefähr so viel dürften die meisten über ihre Heizung wissen. Dass jede Stufe genormt ist, sollte in Deutschland zwar niemanden überraschen, mir persönlich war es aber neu.

Warum ich in diesem Newsletter übers Heizen schreibe? Weil ZDFinfo mit einem Erklärvideo dazu in diesem Monat bei TikTok wahnsinnig erfolgreich war. Mit über fünf Millionen Views hat der Kanal des Spartensender das erfolgreichste TikTok-Video deutscher Publisher gepostet. Das ergibt die Erhebung meines Kollegen Simon, der nicht nur fortlaufend beobachtet, was gerade bei TikTok trendet, sondern am Monatsende auch eine abschließende Analyse schreibt.

ZDFinfo war nicht der einzige Kanal, der im November einen Reichweiten-Hit landete. Auch der Tagesspiegel, der WDRBR, die Augsburger AllgemeineRTL Aktuell und die Tagesschau haben in den vergangenen Wochen reichweitenstarke Videos produziert. Wie erfolgreich sie waren und auf welche Themen sie gesetzt haben, kannst du als Medieninsider hier lesen.

TikTok-Charts im November: ZDFinfo holt mit Lifehack über fünf Millionen Klicks

Johannes Boie, Chefredakteur Bild. Foto: GABO/AXEL SPRINGER SE

Ist die Entscheidung, auf eine neue Plattform wie TikTok zu gehen, eigentlich schon Innovation? Eher nicht. Innovativ erscheint hingegen, wenn man dort Gelerntes auf eigene Produkte anwenden und sie weiterentwickeln kann. Wie man Strukturen aufsetzt und eine Kultur schafft, in der Transferleistungen, Kreativität und Experimentierfreude ihren Platz haben, damit setzt sich unter anderem Bente Zerrahn auseinander. Sie ist Innovation Catalysator bei Axel Springer und befasst sich heute damit, wie Medien von morgen aussehen. Kürzlich war sie zu Gast im Medieninsider Q&A und hat unseren Mitgliedern Fragen zum Thema Innovationsmanagement beantwortet. Mein Kollege Fabian hat das Treffen zusammengefasst. Seinen Text kannst du als Medieninsider hier lesen.

Worum geht es bei Innovation?

Dazu passt: Mit Bente habe auch ich vor einiger Zeit ein Interview geführt. Darin ging es um die Entstehung und die Entwicklung des Innovationsbegriffs im Allgemeinen – und um die Frage, wie weit Medien auf ihrer Transformationsreise tatsächlich vorangekommen sind. Das Interview kannst du als Medieninsider hier lesen.


News und Entdeckungen der Woche 

zusammengetragen von Kevin Dusch

Bild startet Sport-Sender

Bild versucht seine Bewegtbild-Aktivitäten im Sport-Segment auszubauen. Mit Bild Sport TV startet der Boulevardtitel einen 24-Stunden-Sportstreaming-Sender, der nur Kunden der Sportwelt von Samsung zur Verfügung stehen soll. Unter der Marke sollen unter anderem Fußball, Kampf- und Motorsport zu sehen sein. Der Paketpreis liegt bei 14,99 Euro im Monat und beinhaltet auch elf weitere Sender. Zum Start liefert Bildzudem Einschätzungen seiner Fußball-Experten Marcel Reif und Lothar Matthäus zur WM in Katar. Erst vergangene Woche gaben die Bild-Verantwortlichen intern bekannt, ihre Ambitionen für den linearen TV-Sender als News-Kanal zurückzufahren. Das hat auch personelle Konsequenzen. Vom Umbau des Programms sind bis zu 100 Mitarbeiter betroffen, rund 80 befristete Verträge werden nicht verlängert. Die Mitteilung des Konzerns zum Sport-Kanal findest du hier.

BDZV: Döpfner jetzt kein Präsident mehr, künftig soll Vorstand führen

Mathias Döpfner hat sein Amt als BDZV-Präsident wie angekündigt nach sechs Jahren niedergelegt. Mit seinem Ausscheiden hat die Organisation eine neue Satzung verabschiedet, laut der der Verband künftig von keinem Präsidenten mehr, sondern von einem Vorstand geführt wird. Dessen Vorsitz soll aus zwei ehrenamtlichen Vertretern sowie der Hauptgeschäftsführerin des BDZV – aktuell Sigrun Albert – bestehen. Sobald die Satzungsänderung beim Vereinsregister eingetragen wurde, will der Verband den neuen Vorstand wählen. Die Mitteilung des BDZV findest du hier.

Tagesspiegel führt Haustarifvertrag ein

Der Tagesspiegel bezahlt seine Beschäftigten ab 1. Januar 2023 nach einem hauseigenen Tarifvertrag. Die Vereinbarung sieht eine stufenweise Erhöhung der Gehälter über die kommenden sieben Jahre vor. Dabei soll sich die Bezahlung jährlich 12,5 Prozentpunkte an den Branchentarif annähern. Am Ende soll die Angleichung an die Branchentarifverträge stehen. Die Stufen waren bereits im Juni 2022 verhandelt worden, seitdem hatten der Tagesspiegel und die Gewerkschaften noch Detailfragen geklärt. Die Mitteilung des Tagesspiegel findest du hier.

Morning Brew baut 14 Prozent seiner Stellen ab

Das Newsletter-Medium Morning Brew, das in den vergangenen Jahren einen starken Aufstieg erlebt hat, baut jetzt 45 Stellen ab. Das entspricht 14 Prozent der gesamten Belegschaft. Im Zuge der personellen Einschnitte soll auch das Angebot schrumpfen. Welche Produkte konkret eingestellt werden sollen, ließ das Unternehmen offen. Als Grund nennt eine Unternehmenssprecherin von Axel Springer die herausfordernde wirtschaftliche Lage. Der deutsche Medienkonzern hat im Jahr 2020 über seine US-Tochter eine Mehrheit an Morning Brew übernommen. Über die Einschnitte berichtete zuerst Semafor. Den Artikel dazu findest du hier.

Identifizierungsdienst Verimi kauft Konkurrent Yes

Die Dienste für Online-Identitätsprüfungen Verimi und Yes schließen sich zusammen. Mit ihren Anwendungen können sich Unternehmen die Identität ihrer Kunden verifizieren lassen, etwa bei Transaktionen. An Verimi und Yes sind 25 Unternehmen beteiligt, darunter die Deutsche Bank, Samsung und Axel Springer. Ebenfalls beteiligt ist das Technologie-Unternehmen Core, dessen Vorstand unter anderem der Verleger der Berliner ZeitungHolger Friedrich, ist. Von 2017 bis 2019 war er selbst Geschäftsführer von Verimi. Das Unternehmen trat 2017 als Login-Allianz an, die mehrere digitale Angebote in einem gemeinsamen Nutzer-Account bündeln wollte. Die Pressemitteilung zur Fusion findest du hier.

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Aus dem Personalticker

► SWREva Lippok wird Personalchefin, Anja Görzel leitet Kommunikation

► Isolde Fugunt wird Leiterin der katholischen Journalistenschule

► Mathias Müller von Blumencron übernimmt Tamedia-Geschäftsleitung

► Yorck Polus wird ZDF-Sportchef

► Media-Impact-Chef Carsten Schwecke verlässt das Unternehmen

► Andrea Becher wird Sales-Direktorin bei Ippen Digital

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Termine für neue Q&As im Directors’ Club!

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Über unsere Vision haben mein Co-Gründer Matthias und ich übrigens erst vergangene Woche im Rahmen der Teilnahme an einer internationalen Studie zu unabhängigen Digital-Medien gesprochen. Medieninsider ist eines von 30 ausgewählten Journalismus-Start-ups. Die Studie erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2023. Wir werden berichten. 

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Marvin Schade
Marvin Schadehttps://medieninsider.com
Marvin ist Co-Gründer und Founding Editor von Medieninsider und hat sich damit einen kleinen Traum erfüllt. Vor der Gründung war er mehrere Jahre für den Branchendienst Meedia in Hamburg und Berlin tätig, arbeitete kurz beim Focus Magazin und zuletzt für Gabor Steingarts Morning Briefing.

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